Oberhausen.
Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts nahezu unbegreiflich mutet der Stellenwert an, den die Konfessionszugehörigkeit im politischen Leben des Kaiserreichs einnahm: Die beiden christlichen Konfessionen bildeten markant verschiedene soziale Milieus. Die katholische Bevölkerungsmehrheit von knapp zwei Dritteln der Oberhausener bestand aus wenigen Ortsansässigen und aus Zuwanderern, deren Heimat vornehmlich Rheinland und Westfalen sowie Schlesien waren. Die katholische, meist ländliche Zuzugsbevölkerung bildete das Gros der Arbeiterschaft.
Der protestantischen Bevölkerungsminderheit dagegen gehörte die weit überwiegende Mehrheit des Großbürgertums an. Fast alle großindustriellen Manager sowie viele mittlere Eigentümerunternehmer waren evangelisch – genauso wie die Mehrheit der Angestellten und der Facharbeiterschaft. Zudem kamen seit 1890 zahlreiche evangelische Zuwanderer für den Bergbau aus deutschen Ostprovinzen.
Wegen kleiner Einkommen blieb vielen Wahlrecht versagt
Evangelisch bedeutete vornehmlich national-konservativ, preußisch-patriotisch, am bürgerlichen Lebensstil orientierte Stammarbeiterschaften mit hohen Anteilen von Facharbeitern und angestellten Führungskräfte. Evangelisch konnte aber auch bedeuten: Man zählte zu der Mehrzahl derjenigen Menschen, die jung, ledig, örtlich extrem mobil und damit auch mental nicht an den Wohnort gebunden waren – und sich zudem der sozialistischen Arbeiterschaft, der SPD und den Gewerkschaften gegenüber aufgeschlossen zeigten.
Diese große Gruppe der Oberhausener spielte bis 1919 für die Kommunalpolitik keine Rolle, da ihr wegen kleiner Einkommen das Wahlrecht vor Ort versagt blieb. Anders im Reich mit seinem gleichen Wahlrecht: Welche quantitative Bedeutung der sozialistischen Arbeiterschaft zukam, zeigte sich im westlichen Ruhrgebiet erstmals bei der Reichstagswahl 1878, als der Kandidat der SPD im Wahlkreis Duisburg, zu dem auch Oberhausen zählte, überraschend das Direktmandat errang. Der Schock für das staatstragende Bürgertum war so gewaltig, dass für alle weiteren Reichstagswahlen des Kaiserreiches Wahlbündnisse zwischen Nationalliberalen und Zentrum geschlossen wurden und einen erneuten sozialdemokratischen Sieg vor Ort verhinderten.
Klassenbewusstsein entsteht
Das Milieu rund um die sozialistisch gesinnte Arbeiterschaft befand sich im Kaiserreich in einer besonderen Lage: Es wurde vom Bürgertum als politischer Gesprächspartner nicht akzeptiert. So entstanden Arbeitervereine, Gewerkschaften – und ein Klassenbewusstsein, das sich durch Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft auszeichnete. Dabei war man überzeugt, die eigentliche Gesellschaft zu bilden, da man deren Mehrheit stellte.
Viele andere Bergarbeiterfamilien waren katholisch – ihr Leben war von der Kirche geprägt: Kirchgang, Traditionen, von katholischem Vereinswesen, katholischer Zentrumspartei und katholischen Gewerkschaften. Das „soziale Milieu“ des Katholizismus erleichterte es dem Zentrum, einen hohen Anteil von zeitweise über 70 Prozent der Katholiken als Wähler an sich zu binden. So begünstigte der Katholizismus die politische Polarisierung im Kaiserreich, weil sich die Katholiken von dem evangelischen Staat und der ev. Elite abgrenzen wollten.