Mülheim. Eine neuartige Schmerztherapie am Evangelischen Krankenhaus in Mülheim hat einem 63-Jährigen Lebensqualität zurückgegeben. Was dahinter steckt.

Volker Hinsch hatte sich schon einen Gehstock im Internet bestellt. Der ehemalige Hobby-Schiedsrichter hat Arthrose im rechten Knie, bekam in immer kürzeren Abständen Hyaluron-Spritzen und nahm starke Schmerzmedikamente, „um einigermaßen beweglich zu bleiben“.

„Morgens musste ich mich irgendwo festhalten, um hochzukommen. Ich konnte keine hundert Meter laufen ohne Schmerzen“, erzählt der 63-Jährige. Ein Sportsfreund brachte ihn auf die Idee, Hilfe in Mülheim zu suchen. Was er damals nicht ahnte: Er würde im Evangelischen Krankenhaus eine neue Methode ausprobieren, die ihn erstmals seit Jahren wieder komplett schmerzfrei machen würde.

Die Methode: Gefäße werden ausnahmsweise verstopft, statt sie zu öffnen

Tape (transarterielle periartikuläre Embolisation) heißt die 2013 in Japan entwickelte Methode. Prof. Claus Nolte-Ernsting, Chefarzt der Klinik für Interventionelle und Diagnostische Radiologie am EKM, hat sie 2019 nach Mülheim geholt. Eine Methode, die erstaunlich gut funktioniert, obwohl sie auf den ersten Blick abenteuerlich klingt. „Bei Herzpatienten setzen wir Katheter ein, um Gefäße zu öffnen. Hier verstopfen wir sie“, erklärt der Chefarzt.

Ein Röntgenbild macht es deutlich. Zu sehen ist ein hauchfeines Netz, drumherum so etwas wie ein Nebel. „Hier sehen Sie die feinen Gefäße im Knie“, erklärt der Arzt. Bei einer Arthrose liegt eine chronische Entzündung vor, verbunden mit einer gesteigerten Durchblutung, durch die zahlreiche Entzündungszellen ins Gelenk gebracht werden. Zudem entstehen zusätzliche Nervenfasern, die den Schmerz regelrecht speichern.

Durchblutung normal, Entzündung weg - das ist das Ziel der OP

Claus Nolte-Ernsting deutet auf ein zweites Bild, auf dem ein deutlich kleineres Netz zu sehen ist, vollkommen nebelfrei. „So sieht es nach der OP aus. Die Durchblutung ist auf Normalmaß zurückgefahren, die Entzündung verschwunden.“

Für Volker Hinsch ist es inzwischen vier Monate her, seit sich der Chefarzt mit einem winzigen Katheter von 0,6 Millimeter Durchmesser durch die Leiste bis zum Kniegelenk vorgearbeitet hat. Dort wurden die überzähligen Blutgefäße mit winzigen Antibiotikapartikeln verschlossen.

Wie lange hält der Effekt? Das ist die Frage

Volker Hinsch erinnert sich mit Staunen an die Zeit nach der OP. „Ich war sofort wieder beweglicher. Die Schmerzen sind in den Wochen danach immer weniger geworden und waren schließlich ganz weg.“ Ein positiver Nebeneffekt: Er hat keine arthrosebedingte Fehlhaltung mehr. Die Rückenschmerzen, die den Oberhausener zusätzlich plagten, sind ebenfalls weg. Für Volker Hinsch gibt es für das OP-Ergebnis nur ein Wort: „Das ist ein Quantensprung!“

Die Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie im Evangelischen Krankenhaus Mülheim (EKM) ist als Kompetenzzentrum für minimalinvasive Gefäßmedizin zertifiziert. Chefarzt Prof. Dr. Claus Nolte-Ernsting (re.) präsentiert den modernen Operationssaal gemeinsam mit Dr. Alexander Stehr, Chefarzt der Gefäßchirurgischen Klinik.
Die Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie im Evangelischen Krankenhaus Mülheim (EKM) ist als Kompetenzzentrum für minimalinvasive Gefäßmedizin zertifiziert. Chefarzt Prof. Dr. Claus Nolte-Ernsting (re.) präsentiert den modernen Operationssaal gemeinsam mit Dr. Alexander Stehr, Chefarzt der Gefäßchirurgischen Klinik. © Dirk Moll Fotografie

Wie lange hält der Effekt? „Das ist nicht sicher vorhersehbar“, sagt der Arzt. Bei nahezu allen Patienten hatte sich der Schmerz nach einem Monat halbiert. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Erfolgsrate bei der Kniegelenksarthrose nach vier Jahren noch bei 80 Prozent liegt.

Volker Hinsch will voll beweglich in Rente gehen

Klar ist: Die Tape-Methode heilt die Arthrose nicht. „Aber wir können eine Prothese hinauszögern“, erklärt der Arzt. Volker Hinsch sagt dazu: „Ich gehe nächstes Jahr im Oktober in Rente. So lange will ich es noch ohne Knieprothese schaffen.“

Die Tape-Methode ist für Arthrose bis einschließlich Schweregrad 3 geeignet. Ab Schweregrad 4 helfe nur noch die Prothetik. Einzige Ausnahme sind Menschen, die aufgrund ihres Alters oder ihrer körperlichen Verfassung nicht operiert werden können. Daneben eignet sich die Methode auch für Patienten, die bereits eine Knieprothese haben, aber noch immer unter Schmerzen leiden.

Hand, Fuß und Hüfte lieber nicht - welche Körperteile sich eignen

Mangels Erfahrung kann nicht jede Arthrose mit der Tape-Methode behandelt werden. „Knie und Schulter haben sich bewährt. Auch beim Tennisarm, der Frozen Shoulder und bei Sehnenschmerzen haben wir gute Erfahrungen gemacht“, sagt der Arzt, der Hüfte, Hand und Fuß aktuell ausschließt.

Prof. Dr. Claus Nolte-Ernsting, Chefarzt der Klinik für Interventionelle und Diagnostische Radiologie, wendet die Tape-Methode seit fünf Jahren an.
Prof. Dr. Claus Nolte-Ernsting, Chefarzt der Klinik für Interventionelle und Diagnostische Radiologie, wendet die Tape-Methode seit fünf Jahren an. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

225 Patienten sind im EKM bislang mit der Tape-Methode operiert worden. Die ein- bis zweistündige OP erfolgt unter örtlicher Betäubung, die Patienten bleiben eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus. Eine Nachbehandlung ist nicht nötig.

Die spezielle Methode gilt als risikoarm

Die Operation gilt als minimalinvasiv und risikoarm. Die Komplikationsrate liegt laut Prof. Claus Nolte-Ernsting unter einem Prozent. Am häufigsten käme es zu Hautrötungen oberhalb der Kniescheibe oder Blutergüssen an der Leiste. Laut dem Radiologen gewinnt die Tape-Methode rasant an Bedeutung.

Wer sich für die Schmerzbehandlung interessiert, kann sich im Sekretariat der Radiologie im EKM melden unter 0208-3092701 oder im Sekretariat der Orthopädie unter 0208-3092461.

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