Mülheim. Beim Public Viewing zur EM auf Mülheims Schleuseninsel stimmt ein Mann auf offener Bühne unvermittelt „Deutschland, Deutschland über alles“ an.
Deutschland 2024: Die Hemmungen schwinden. Beim großen Public Viewing zur EM auf Mülheims Schleuseninsel stimmte ein Mann auf offener Bühne unvermittelt „Deutschland, Deutschland über alles...“ an.
Marie (Name geändert) ist auch Tage nach dem Deutschland-Spiel bei der Fußball-EM gegen die Schweiz (1:1) entsetzt. Nicht noch einmal wird sie mit Freundinnen und Freunden zum großen Fanfest auf Mülheims Schleuseninsel gehen - zu übel aufgestoßen ist ihr, was sich am vergangenen Sonntagabend rund eine Stunde vor Anpfiff bei der größten Mülheimer Public-Viewing-Veranstaltung abgespielt hat.
Als erste Strophe des Deutschlandliedes ertönt, singen einige in Mülheim direkt mit
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„Auf der Bühne haben die Veranstalter ein bisschen Stimmung gemacht, haben Musik gespielt. Dann hat der Moderator Leute aus dem Publikum aufgefordert, auf die Bühne zu kommen und a capella Lieder anzustimmen“, schildert Marie aus ihrer Sicht das Geschehen gegen 20 Uhr beim Fest mit rund 1000 Gästen auf der Schleuseninsel. Erst wären Kinder auf die Bühne gekommen, hätten ein Lied angestimmt, dass Deutschland Europameister werden würde. Aber dann...
Schließlich sei ein Mann auf die Bühne getreten, nach Augenzeugenberichten zwischen 45 und 55 Jahre alt, und habe die erste Strophe der deutschen Nationalhymne angestimmt: „Deutschland, Deutschland über alles...“ Ein Video einer anderen Besucherin, das dieser Redaktion vorliegt, zeigt, dass einige Besucher direkt in den Chor eingestiegen sind, daneben ist auch etwas Entsetzen zu vernehmen. „Einige sind aufgestanden, haben ihre Arme hochgerissen und mitgesungen, andere haben den Kopf geschüttelt und auf den Boden geschaut, so geschockt waren sie“, berichtet Marie.
„Sie haben auffällig Palaver gemacht, sie kamen bei mir rechtsradikal rüber“
Der Mann auf der Bühne schwenkt, so ist es im Video zu sehen, nach den ersten Worten „Deutschland, Deutschland“ und kurzer Pause, in der einige im Publikum die verpönte erste Strophe weitersingen, zur dritten, offiziell verwendeten Strophe des Deutschlandliedes über: „Einigkeit und Recht und Freiheit...“
Katrin (Name geändert) hat die Szene im Video festgehalten. Sie habe intuitiv ein Video gestartet, weil ihr die zehn- bis 15-köpfige Gruppe, mit der der Mann im weißen Deutschland-Trikot offenbar zum Feiern gekommen war, vorher schon suspekt gewesen sei. „Sie haben ziemlich auffällig Palaver gemacht, sie kamen bei mir rechtsradikal rüber“, so die junge Frau. Dann sei der besagte Mann von der Gruppe lautstark aufgefordert worden, doch auf der Bühne was anzustimmen. Mit besagtem Eklat als Ergebnis.
„Der durfte 90 Minuten das Spiel schauen, weiter saufen und seine Deutschland-Fahne schwenken“
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Marie und Katrin sind fassungslos, dass es weder einen beherzten Aufschrei im Publikum gegeben noch der Veranstalter entschieden reagiert habe. Der Mann habe zunächst auf der Bühne ungehindert weitersingen, später mit seinem Trupp weiter feiern dürfen. „Der durfte 90 Minuten das Spiel schauen, weiter saufen und seine Deutschland-Fahne schwenken“, zeigt sich Marie entgeistert. „Das war viel zu wenig“, kritisiert sie die Reaktion von Moderator und Veranstalter. „Es hätte dazu sofort ein Statement geben sollen und nicht nur ein leises ‚Lass das mal besser!‘, so die Mülheimerin.
Katrin hat sich mit ihrem Unmut an die Veranstalter gewendet und Antwort von Thorsten Sterna erhalten, dem Moderator beim Fanfest. Sterna reklamiert darin für sich, sofort eingeschritten zu sein, als der Mann die dritte Strophe angestimmt hatte. „Bereits nach den ersten drei Wörtern habe ich ihn unterbrochen und darauf hingewiesen, dass dies nicht akzeptabel ist. In der Folge hat der Herr, soweit es sein Zustand zugelassen hat, die richtige Version der Hymne gesungen.“
Moderator bedauert den Vorfall: „Nehmen solche Vorkommnisse sehr ernst“
Gegenüber der Redaktion erklärte Sterna, perplex gewesen zu sein, weil er mit so etwas nicht gerechnet habe. Er selbst habe dem Mann, als er auf die Bühne gekommen sei und nicht gewusst habe, was er für ein Lied anstimmen solle, zum „Warmmachen für gleich“ die Nationalhymne empfohlen. Er habe ja nicht ahnen können, dass der Mann zur ersten Strophe ansetze. Auf einen Bühnen- oder Platzverweis habe man verzichtet, weil der Mann ja sofort eingelenkt habe.
Im Schreiben an die Besucherin drückte Sterna überdies aus, dass er und der Veranstalter „solche Vorkommnisse sehr ernst nehmen“. Man werde „alles daran setzen, dass unsere Veranstaltungen respektvoll und im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen und Werten ablaufen“. Sein Versprechen: „Wir werden in Zukunft ähnliche Situationen vermeiden.“ Man lege Wert darauf, „eine respektvolle und inklusive Atmosphäre zu gewährleisten“. Menschen aller Nationen, gleich welcher Hautfarbe, Religion oder politischer Gesinnung wolle man ein Fest bieten, so Sterna im Gespräch mit der Redaktion. Vorsichtsmaßnahme: Man werde für die nächsten Events keine Menschen mehr zum Singen auf die Bühne bitten.
Erste Strophe des Deutschlandliedes: Verpönt, aber nicht verboten
„Ich gehe davon aus: Bis Samstag?!“ beendet Sterna sein Antwortschreiben. Für Marie und Katrin steht hingegen fest: Zum Fanfest auf der Schleuseninsel werden sie, egal wie weit die deutsche Nationalmannschaft noch kommen sollte, nicht mehr gehen.
Die erste Strophe vom „Lied der Deutschen“, das August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 verfasste und das Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) 1922 zur Nationalhymne erklärte, war nach dem Zweiten Weltkrieg, als es von den Nazis für ihre Zwecke entfremdet worden war, zunächst in der US-amerikanischen Besatzungszone gar verboten. Das Verbot ist zwar längst aufgehoben, verpönt ist die erste Strophe wegen ihrer geschichtlichen Verwendung als imperialistisches, nationalistisches Schlachtlied dennoch.
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