Moers/Neukirchen-Vluyn/Kamp-Lintfort. Michael Paßon vom Verein „Klartext für Kinder“ sieht in Kinderarmut auch eine Gefahr für die Demokratie. Warum Armut von Kindern unsichtbar ist.
In Deutschland lebt mehr als jedes fünfte Kind in Armut. Damit ist Kinderarmut auf einen neuen Rekord gestiegen, wie der Paritätische Armutsbericht von 2024 mitteilt. Diese Kinder können sich keinen durchschnittlichen Lebensstandard leisten und sind häufig auf Hilfe von außerhalb angewiesen. Doch auch staatliche Unterstützungsleistungen weisen Mängel auf. Dort, wo es Lücken gibt, setzt der ehrenamtliche Verein Klartext für Kinder e.V. – Aktiv gegen Kinderarmut an. Michael Paßon ist der erste Vorsitzende: Für ihn ist Kinderarmut nicht nur ein Problem für Kinder, sondern auch eine Gefahr für unsere Demokratie.
Herr Paßon, Sie sagen, dass Kinderarmut Ihnen politische Sorgen bereitet. Wie meinen Sie das?
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Kinderarmut eines der drängendsten Probleme unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist. Nicht nur um der Kinder willen, sondern auch wegen der politischen Wirkung. Kinderarmut wird zum Werkzeug des Populismus gemacht. Und wir wollen als Verein nicht von Populisten missbraucht werden.
Inwiefern macht sich Politik Kinderarmut zunutze?
Wir sind in einer Situation, in der in Teilen rechtsextreme Parteien demokratisch gewählt werden. Und ja, auch großen Zuspruch erhalten. Das nicht, weil sie neue Ideen vortragen, sondern weil sie die Ängste der Menschen aufgreifen. Eine Angst, abgehängt zu werden. Abgehängt zu werden gegenüber Fremden, gegenüber denen, die nicht arbeiten gehen.
Kinderarmut und auch Altersarmut sind wichtige Teile dieses Gesellschaftsgefühls, die auch die gesellschaftliche Diskussion verschärfen. Wenn wir uns gegen Kinderarmut, die nicht gleich sichtbar ist, einsetzen, dann schaffen wir es, wieder mehr Zufriedenheit und ein Gefühl von Gerechtigkeit zu erreichen – und da kann jeder etwas tun.
„Kinderarmut wird zum Werkzeug des Populismus gemacht. Und wir wollen als Verein nicht von Populisten missbraucht werden.“
„Kinderarmut ist nicht gleich sichtbar“ – Was meinen Sie damit?
Unsere Gesellschaft nimmt Armut erst dann wahr, wenn sie wirklich sichtbar ist. Wir kennen diese Bilder aus amerikanischen Filmen, wo sich Menschen an brennenden Tonnen wärmen – Das ist das extreme Bild von Armut. Kinderarmut ist nicht offensichtlich sichtbar, denn wir müssen mindestens zwei Mal hingucken. Solange sie nicht offensichtlich ist, ist sie für viele nicht erlebbar und damit nicht da.
Laut Save the Children ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Kinderarmut ist doch in Moers und Umgebung kein Problem, oder?
Laut des Paritätischen Armutsbericht von 2024 tendiert diese Zahl sogar zu jedem vierten Kind hier in NRW. In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, ist das ein Skandal. Aber genaue Zahlen haben wir für unsere Region nicht. Dennoch ist diese Zahl allein – jedes vierte Kind – einfach bedrückend. Zählen Sie einfach mal in einer Schulklasse durch.
Aber haben Sie schon hier, in dieser Umgebung, Kinderarmut erlebt?
Ja, natürlich. Wir erleben es jeden Tag: Das Selbstverständlichste fehlt. Das kann ein Bett oder der Zuschuss zu einer Sportbrille für das sehschwache Kind sein. Oder wenn ein kleiner Bruder die drei Nummern größeren Schuhe seines älteren Bruders tragen muss, weil es sonst keine Winterschuhe gibt. Selbstverständliche Dinge, die sich der normal sozialisierte Mensch überhaupt nicht vorstellen kann, fehlen. Es geschieht vor allem direkt in der Nachbarschaft, nebenan.
Welche Maßnahmen wünschen Sie sich von der Politik, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen?
Ich glaube, dass Politik und Staat den Rahmen dafür schaffen müssen, dass Familien in der Lage sind, durch externe Unterstützung den Weg aus der Armut zu schaffen. Wir sollten investieren in: Bildung, Bildung, Bildung. Dass die Familien nur mehr Geld brauchen, ist zu kurz gedacht. Das hilft nicht langfristig. Es muss Unterstützung geben, um die Eigenverantwortung der Familien zu fördern. Denn: Die Verantwortung liegt zunächst bei den Menschen selbst, die sich entschieden haben, Kinder zu bekommen.
Armut ist allerdings auch ein generationsübergreifendes Problem.
Ja, Armut ist keine Schuldfrage. Man wird zum Teil in Armut geboren. Viele haben unglückliche Lebensumstände, die in Armut münden. Dann gibt es noch diejenigen, die selbstverschuldet in Armut geraten. Aber ich wehre mich gegen die pauschalisierende Aussage: „Die sollen mal arbeiten gehen!“ Familien sollten lernen, für sich selbst und für ihre Kinder zu sorgen – sozial wie wirtschaftlich. Die Verantwortung liegt nicht zuerst bei der Politik und beim Staat. Bei ihnen liegt dann aber die Verantwortung der Hilfe.
Mit welchen Herausforderungen hat Ihr Verein heute zu kämpfen?
Die größte Herausforderung ist rein operativ: Wir möchten unser Kinderhilfswerk in die Zukunft führen, weil wir fürchten müssen, dass das Problem Kinderarmut sich nicht irgendwann einfach auflöst. Wir können es als Verein nicht wirklich bekämpfen. Was wir machen können, sind Pflaster kleben, um normale und manchmal glückliche Momente für die Kinder zu schaffen.
„Was wir machen können, sind Pflaster kleben, um normale und manchmal glückliche Momente für die Kinder zu schaffen.“
Viele ehrenamtliche Vereine bangen um Engagement und somit auch um ihre Zukunft. Wie kann Klartext für Kinder e.V. auch weiterhin bestehen?
Dafür benötigen wir Menschen – 365 Tage im Jahr. Menschen, die unserer mobilen Kindertafel helfen. Menschen, die mal eine Veranstaltung mit begleiten. Wir suchen auch immer Busfahrer für unsere Tafel. Wir suchen aber auch Menschen, die bereit sind, den Gedanken von Klartext für Kinder e.V. in die Zukunft zu tragen. Jemand, der sagt: Ich bin überzeugt von der Idee und ich bin kurz- oder mittelfristig bereit, solche Verantwortung zu übernehmen. Auch im Vorstand.
Klartext für Kinder e.V.
Wer sich gegen Kinderarmut vor der Haustür engagieren möchte, kann sich unter info@klartext-fuer-kinder.de melden. Erste Infos gibt es auch unter www.klartext-fuer-kinder.de.