Herne. Eine Herner Schulärztin schlägt Alarm: Immer mehr Kinder kommen in die Schule, ohne überhaupt deutsch zu können. Welche Lösungswege sie sieht.
Die Zahl der Kinder, die zum Beginn der Grundschule keinen deutschen Satz sagen können, hat in Herne dramatisch zugenommen. Das geht aus Zahlen der Schuleingangsuntersuchungen hervor, die für jedes Vorschulkind verpflichtend sind. Beim Jahrgang der derzeitigen Erstklässlerinnen und Erstklässler zeigt sich, dass rund die Hälfte der Kinder im Elternhaus nicht Deutsch als Erstsprache sprechen. Von diesen Kindern hatten zum Schuleintritt 47 Prozent der Kinder keine oder nicht ansatzweise ausreichende Deutschkenntnisse, um dem Unterricht zu folgen oder sich selbst auszudrücken. Das ist im Schnitt jedes vierte Kind in Herne. „Die Zahl hat drastisch zugenommen“, mahnt Kathrin Klimke-Jung, Abteilungsleitung Kinder- und Jugendgesundheit beim Gesundheitsamt der Stadt Herne, und fordert den Ausbau des vorschulischen Bildungsangebotes in Herne.
Um die Entwicklung deutlich zu machen, hilft ein Vergleich: Vor genau zehn Jahren lag die Zahl dieser Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen zum Schuleintritt noch bei 11,4 Prozent. Bezogen auf die Gesamtzzahl der i-Dötzchen damals sei die Zahl sogar noch deutlich niedriger. Die derzeitigen 47 Prozent liegen weit über dem insgesamt schlechten NRW-Schnitt, der bei 32,7 Prozent liegt. „Zu viele Kinder in Herne können keinen deutschen Satz sagen“, sagt deshalb Klimke-Jung. Diese könnten an der Kommunikation in der Klasse nicht teilnehmen, nicht verstehen, was ihnen die Lehrerin oder der Lehrer sagt. „Das ist in Herne wirklich eines unserer größten Probleme.“ Diese negative Entwicklung habe bereits vor Corona begonnen, sei durch die Pandemie aber noch einmal verschärft worden.
Dabei falle vor allem eines ins Auge: Der Zusammenhang zwischen dem Besuch einer Kita und der Sprachfähigkeit. Wenn Kinder mehr als drei Jahre eine Kita besucht haben, sprächen mehr als die Hälfte dieser Kinder fast fehlerfrei Deutsch, entnimmt Klimke-Jung den Zahlen. „Diese Kinder sind anschlussfähig.“ Nur etwas über zwei Prozent dieser Kinder spricht völlig ungenügend Deutsch. Doch leider fehlten in Herne weiter zu viele Kita-Plätze. Viele Eltern berichteten ihr, dass sie seit Jahren auf einen Kita-Platz hofften – vergeblich.
Die Schulärztin sieht in erster Linie nicht die zugezogenen Eltern in der Pflicht: „Es ist nicht Aufgabe der Eltern, den Kindern eine Sprache beizubringen, die sie selbst nicht beherrschen. Das ist Aufgabe der Bildungseinrichtungen.“ Diese Kinder seien ja nicht dumm. „Das sind keine sprachgestörten Kindern, sondern sie kommen einfach aus einer Familie, in der andere Sprachen gesprochen werden.“
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Zunehmende Defizite beobachtet sie aber nicht nur bei der Sprache. „Der Trend über die letzten Jahre ist, dass sich die vorschulischen Fähigkeiten insgesamt verschlechtert haben“, so die Schulärztin. Auch die mathematischen Leistungen lassen nach – wenn auch nicht so stark wie bei der Sprache. So konnten bei den Schuleingangsuntersuchungen 17,3 Prozent der Kinder nicht bis zwölf zählen. Vor zehn Jahren waren es 7 Prozent.
Auffälligkeiten gebe es auch bei der Konzentrationsfähigkeit, der Feinmotorik und Grobmotorik. So konnten beispielweise 2014 noch 80 Prozent der Kinder hin und her hüpfen. Zuletzt seien es nur noch 64 Prozent gewesen. „Der Gebrauch von Medien ist das größte Problem“, so die Einschätzung von Kathrin Klimke-Jung. Den Kindern fehle die Kommunikation und die Bewegung. Dabei könnten Eltern ihre Kinder ganz einfach im Alltag auf den Schulbesuch vorbereiten. Beispielsweise könne der Weg zur Kita zu Fuß zurückgelegt werden, statt mit dem Auto. Idealerweise unterhalte man sich in dieser Zeit mit dem Kind, lasse es reden und höre zu und erkläre ihm unterwegs Dinge, die man sieht. Aber auch das Zähneputzen sei eine gute Schulung für die Motorik.
Schulärztin in Herne plädert für verpflichtende Vorschulgruppen
Kinder, die von diesem Einsatz der Eltern nicht profitierten, müssten aber ebenfalls abgeholt werden. „Wir müssen in vorschulische Bildung investieren“, mahnt die Schulärztin. Früher habe es in den Schulen verpflichtende Schulkindergärten gegeben. Bereits schupflichtige Kinder seien dann von einer Lehrkraft unterrichtet worden. Stattdessen gebe es nun die dreijährige Schuleingangsphase. „Aus schulärztlicher Sicht würde ich mir sehr wünschen, dass Schule auch wieder die Möglichkeit hätte, Vorklassen einzurichten. So wie es das auch in anderen Bundesländern bereits gibt“, sagt Klimke-Jung.
In einzelnen Schulen werden bereits an einzelnen Tagen vorschulische Angebote in dieser Art gemacht. Schulleiterin Monika Müller erzählte beispielsweise kürzlich, dass Kinder an der Grundschule Kunterbunt bald zweimal in der Woche vor der Einschulung auf den Schulbesuch vorbereitet werden können. Klimke-Jung würde sich darüber hinausgehend tägliche, verpflichtende Vorklassen als Ergänzung der jetzigen Schuleingangsphase wünschen, um allen Kindern die Möglichkeit zu geben, gut aufgestellt in Klasse 1 zu starten. „Nur so können wir allen Kindern eine Chance geben.“