Herne. Fehlende Kita-Zeit, Homeschooling zum Beginn der Schulzeit: Vor allem bei Grundschülern sind bis heute die Auswirkungen der Pandemie zu spüren.
Mangelhafte Deutschkenntnisse, Konzentrationsschwierigkeiten oder Probleme, einen Stift zu halten: Drei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie sind in Herne weiterhin die Folgen bei Grundschülerinnen und Grundschülern zu beobachten. Gewalt, eine geringe Konzentrationsfähigkeit und vor allem auch Sprachprobleme seien besonders bei den jüngeren Grundschülern deutlich verbreiteter als in früheren Zeiten, sagt Schulamtsdirektorin Andrea Christoph-Martini.
Ein Umstand, den Robert Faber, Schulleiter der Josefschule in Wanne, täglich zu spüren bekommt. Auch er sagt: „Es ist ein unheimlicher sprachlicher Rückschritt.“ Bis heute zeigten sich die Folgen der Pandemie im Unterricht und im Miteinander: „Die Kinder haben sehr viel Nachholbedarf. Darin, miteinander zu spielen, zu reden, sich als Teil einer Gruppe zurückzunehmen“, so Faber. „Den Kindern ist nicht mehr so bewusst, was Aktion und Reaktion für Folgen bei anderen hat.“
Das hat direkte Auswirkungen auf die Lernerfolge: „Die Lerninhalte verändern sich massiv“, sagt Faber. So werde an seiner Schule gerade der Unterricht umgestellt, um inhaltlich näher an der Lebenswelt der Kinder zu sein und diese so besser zu erreichen. Sein Kollegium habe sich komplett von den standardisierten Lernwerken gelöst, um individuell auf die Fähigkeiten der Kinder eingehen zu können. Er beobachtet aber auch: „Die Zahl der Kinder, die länger an der Grundschule verbleiben, hat massiv zugenommen.“
Herne: Fehlende Kita-Plätze als Problem für Grundschulen
Das Problem fehlender Kita-Plätze in Herne bemerkten er und sein Kollegium extrem: „Viele der Kinder, die zu uns kommen, waren noch nie in einer Kita“, so Faber. Einige hätten noch nie einen Stift in der Hand gehabt. Dabei ist es nicht so, dass die Eltern die Kinder bewusst zu Hause ließen. Im Gegenteil. „Wir sehen wirklich Eltern, die neu in Herne sind und ihre Kinder vorzeitig einschulen wollen, damit die Kinder eine Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen“, beschreibt Kathrin Klimke-Jung, Abteilungsleitung Kinder- und Jugendgesundheit beim Gesundheitsamt, Einzelfälle. Selbst für Viereinhalbjährige werde so schon der Wunsch nach einer Einschulung geäußert.
„Es gibt immer mehr Kinder, die mit mangelhaften Sprachkenntnissen in die Schule kommen“, so ihr Fazit aus den Schuleingangsuntersuchungen. Bei Kindern, deren Muttersprache nicht deutsch ist, was etwa die Hälfte aller Kinder in Herne betreffe, hätten 2019 noch 38,7 Prozent gute oder sehr gute Deutschkenntnisse vor Schulbeginn gehabt. Nach der Pandemie liege die Zahl nun bei nur noch 22,5 Prozent. Das bedeutet, dass etwa vier von zehn Kindern, die in die Schule kommen, gar nicht oder nicht gut Deutsch können.
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Doch auch abseits der Sprache beobachten die Experten Defizite: „Die Erstklässler sind in der Entwicklung noch ein bisschen kleiner, ein bisschen zurück“, beschreibt Meike Blind, Schulleiterin der Katholischen Grundschule an der Bergstraße in Mitte, die alles andere als eine Schule im Brennpunkt ist. Dabei seien die Defizite unterschiedlich, je nachdem in welcher Stufe das Kind sei. Die Erst- und Zweitklässler haben die Hauptphase des Lockdowns noch in der Kita erlebt, die geschlossen war.
„Wir merken deutlich, dass bei ihnen die Maxi-Jahre fehlen“, betont Blind. Wie halte ich eine Schere oder einen Stift? Wie funktioniere ich in einer Gruppe, wie in der Schulklasse? In diesen Bereichen müssten einige Defizite aufgearbeitet werden. Es gebe viele unausgeschlafene, übermüdete Kinder, so die Rückmeldung von Herner Schulleitungen an Andrea Christoph-Martini. „Wahrscheinlich, weil hier während des Lockdowns die Tagesstruktur gefehlt hat.“ Aber das sei nur eine Vermutung, genaue Gründe für diese Defizite seien nicht klar, so die Schulamtsdirektorin. Ein Grund könnte ein erhöhter Medienkonsum sein.
„Wir brauchen mehr vorschulische Sprachförderung“
Einige dieser Probleme beobachtet auch Ute Leipski, Rektorin der Grundschule Max-Wiethoff-Straße in Sodingen: „Wir versuchen, dem mit Förderunterricht entgegenzuwirken. Außerdem haben wir Lernzeiten eingerichtet, damit die Kinder zusätzliche Zeit haben, in der sie an ihren individuellen Baustellen arbeiten können.“ Die großen Klassen und sprachliche Barrieren erschwerten diese Arbeit aber. Der Unterschied sei bis heute spürbar, sagt Schulleiterin Meike Blind. „Die Situation hat uns allen was ausgemacht.“ Sie betont aber auch: „Ich glaube nicht, dass wir die Kinder mit massiven Problemen an die weiterführenden Schulen abgeben.“
Vor allem den sprachlichen Defiziten müsse in Herne noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, fordert Schulärztin Klimke-Jung: „Wir brauchen mehr vorschulische Sprachförderung.“ Außerdem seien Sprachkitas in Städten wie Herne essenziell wichtig und müssten unbedingt fortgeführt werden. „Wir sind eine mehrsprachige Kommune und das ist eine Bereicherung“, so Klimke-Jung. „Aber die Bildungssprache ist einfach Deutsch. Deshalb müssen wir Sprache in Herne noch mehr zum Thema machen.“
>>>WEITERE INFORMATIONEN: Gesundheitsamt wartet auf Vergleichswerte
- Das Gesundheitsamt kann auf WAZ-Anfrage keine konkreten Daten zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Entwicklung der Kinder anhand der Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen vorlegen. Aufgrund der personellen Einschränkungen und der Hygienevorschriften sei ab Februar 2020 nur eine verkürzte und nicht mehr voll standardisierte Untersuchung vor Schuleintritt durchgeführt worden, erklärt Kathrin Klimke-Jung.
- Für die künftigen Erstklässler werde nun erstmals wieder seit Sommer 2022 das voll standardisierte Verfahren angewandt. Anschließend sollten (ab Herbst) sehr intensiv die Ergebnisse dieses Jahrgangs analysiert werden.