Herne. Alleinerziehend im Rollstuhl: Ein schwerer Unfall reißt Manuel Grave (39) aus dem Leben. Er will nicht mehr. Für die Söhne kämpft er weiter.
Es gibt Schicksalstage, die zwischen Tod und Leben entscheiden. Der 18. Juli 2016 war für Manuel Grave aus Herne so ein Tag. Er ist damals 31, sportlich, arbeitet als Möbelpacker. Bei einem Motorrad-Ausflug mit einem Freund in Bochum bricht ihm plötzlich sein Hinterrad aus und er prallt gegen die Seitentür eines Autos. Erinnern kann er sich daran heute nicht mehr. Wohl aber an den Schock, die Schmerzen und die Tortur, die für den zweifachen Vater danach beginnen.
„Ich hatte einen beidseitigen Lungenriss, da mehrere gebrochene Rippen die Lunge durchstoßen haben“, erinnert sich Manuel Grave. Außerdem habe er einen Genickbruch, den Bruch mehrerer Hals- und Brustwirbel sowie ein Schädelhirntrauma und einen Schädelbasisbruch davongetragen, so der heute 39-Jährige weiter. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Dass Manuel Grave überhaupt noch lebt, grenzt angesichts der schweren Verletzungen an ein Wunder.
„Irgendwann war ich an einem Punkt, dass ich nicht mehr leben wollte.“
„Damals war es sehr hart für mich“, sagt Grave heute. Zwei Wochen liegt er im Koma. Danach folgen acht Wochen auf der Intensivstation und mehrere Rehas. Anschließend zieht er in ein Pflegeheim – für insgesamt zwei Jahre. „Die Anfangszeit im Pflegeheim war sehr schwer“, erinnert er sich. Er habe nicht alleine zur Toilette gehen können, musste sauber gemacht werden, konnte nichts selbständig machen. „Irgendwann war ich an einem Punkt, dass ich nicht mehr leben wollte.“
Zu diesem Zeitpunkt hätten ihm zwei Menschen, die in sein Leben traten, eben dieses gerettet. Der eine sei „Micha“ gewesen, ein ebenfalls querschnittsgelähmter Mann, der 18 Jahre vor ihm ähnliches erlebt hatte und ihm zeigte, dass es aufwärtsgehen, dass das Leben trotz Querschnittslähmung wieder lebenswert sein kann. Der andere sei sein Pfleger Ben Vogel gewesen, der ihn unter seine Fittiche nahm und ihm eine spezielle Reha für Querschnittsgelähmte in Hattingen besorgte. Dort lernte Manuel Grave in vier Monaten, wieder selbständig zu leben. Seitdem kann er nicht nur wieder alleine zur Toilette, sondern auch Treppen im Rollstuhl runter hoppeln oder Rolltreppe fahren. Er ist in der Lage, wieder in eine normale Wohnung zu ziehen. Diesen beiden Menschen verdanke er viel.
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Zusätzlich zu seinen gesundheitlichen Problemen plagen Grave zu der Zeit auch private Sorgen. „Ich habe mich gleichzeitig zurück ins Leben gekämpft, für das Sorgerecht meiner Kinder und die Scheidung.“ Seine beiden Söhne sind zum Zeitpunkt des Unfalls elf und sechs Jahre alt. Und bei ihren beiden Müttern seien sie nicht gut aufgehoben gewesen. Laut Grave seien diese alkohol- bzw. drogenabhängig gewesen und hätten sich nicht um die Kinder gekümmert. Während er im Krankenhaus war, habe das Jugendamt seinen jüngeren Sohn in Obhut genommen. Er habe dann erst in einer Pflegefamilie, später in einer Wohngruppe gelebt. Auch sein älterer Sohn wohnt eine zeitlang in so einer Wohngruppe.
Das ändert sich schnell, als Grave fit genug ist, um in seine erste eigene Wohnung in Herne-Mitte zu ziehen, die damals an der Funkenbergstraße liegt. „Plötzlich stand mein Großer auf der Matte und fragte, ob er bei mir wohnen dürfe.“ Der Vater habe nicht lange darüber nachgedacht und spontan „ja“ gesagt. Zwei Monate später folgte auch der jüngere Sohn. „Ich bin selbst in einem Heim groß geworden und das wollte ich für meine Kinder auf keinen Fall.“ Er habe Unterstützung von der Familienhilfe vom Jugendamt bekommen. Und trotz seines Handicaps sei es im Großen und Ganzen gut gelaufen. Inzwischen ist sein größerer Sohn mit seiner Freundin zusammengezogen und wohnt ganz in der Nähe. Der alleinerziehende Vater ist in Herne-Mitte umgezogen und lebt dort gemeinsam mit seinem jüngeren Sohn.
„Es gibt gute und schlechte Tage“, resümiert Grave. Manchmal ginge es ihm trotz der starken Schmerzmittel, die er bis heute jeden Tag nehmen müsse, nicht gut. Auch Spastiken in den Beinen quälten ihn regelmäßig. Dennoch sei er froh, dass er sich in den schwärzesten Tagen für das Leben entschieden habe. „Nur für meine Söhne habe ich überlebt“, sagt er heute. Sie aufwachsen zu sehen, ließe ihn die Schmerzen vergessen und sorge für die glücklichen Momente im Leben – die zum Glück inzwischen überwiegten.
Und mittlerweile seien die beiden Jungs, die inzwischen 14 und 19 Jahre alt sind, auch eine Stütze für ihn. Erst kürzlich habe sein jüngerer Sohn ihm gesagt: „Papa, du hast dich um mich gekümmert und jetzt kümmere ich mich um dich“, sagt Grave sichtlich gerührt. Denn auch seine Söhne hätten durch die schwierige Kindheit heute mit psychischen Problemen zu kämpfen. Der Kontakt zu den Müttern sei inzwischen abgebrochen. „Die Kinder haben nur mich.“
Und allein das sei Motivation genug, um durchzuhalten. Durch den Unfall habe er gelernt, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. „Ich kann froh sein, dass ich hier überhaupt noch so sitze.“ Und dabei leistet ihm seit etwa einem Jahr die Maine-Coon-Katze Holly Gesellschaft. Eine Frau habe er hingegen derzeit nicht an seiner Seite. Aber er sei auch ganz gerne alleine. Oder er treffe sich mit Kumpels auf eine Runde Billard oder fahre Handbike. An manchen Tagen, wenn die Schmerzen zu stark sind, bleibe er aber auch einfach auf dem Sofa liegen.
Finanziell komme er durch Erwerbsminderungsrente, Aufstockungshilfe, Pflege- und Putzgeld über die Runden. „Es ist finanziell schwierig, aber es könnte schlimmer sein.“ Er betont, dass es seinen Söhnen an nichts fehle und er zu Geburtstagen versuche, ihnen durch Schnäppchen bei Ebay ihre Wünsche zu erfüllen. Nur für einen Wunsch reicht das Geld bisher nicht. Seit Manuel Grave 16 Jahre alt war, war er nicht mehr in den Ferien. „Ich würde sehr gerne mal mit meinen Kindern in den Urlaub fahren“, sagt er. „Sie waren noch nie im Urlaub.“ Er hofft, seinen Söhnen diesen Wunsch irgendwann auch noch erfüllen zu können.