Herne. Alkohol- und Medikamentensucht ist sozial immer noch hochstigmatisiert. Drei Herner erzählen, wie sie in die Abhängigkeit gerutscht sind.

Ein Feierabendbier nach der Arbeit. Und dann noch eins und noch eins, weil der Tag so stressig war. Eine Pille, die einen ruhiger werden lässt. Der Weg in die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit verläuft oft schleichend. Marion Backes, Eugen Macuga und Christoph Wagner* aus Herne haben das am eigenen Leib erlebt. Seit Jahren kämpfen sie gegen ihre inneren Dämonen. Ihre Geschichten zeigen, wie Schicksalsschläge manchmal zu fatalen Entscheidungen führen können – und wie gefährlich die Verharmlosung von Suchtmitteln ist.

Marion Backes (57): Alkohol als Fluchtmöglichkeit

Es ist ein Neurologe, der mit großer Wahrscheinlichkeit Marion Backes’ Leben gerettet hat. Wegen eines Tinnitus begab sie sich in ärztliche Behandlung. Der Mediziner stellte fest, dass ihre Leberwerte extrem erhöht waren. „Da ist das ganze Kartenhaus zusammengebrochen“, erinnert sich die 57-Jährige. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie das überleben“, wird der Arzt später zu ihr sagen.

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Backes’ Geschichte ist von brutalen Schicksalsschlägen durchzogen. Ihr Stiefvater sei Alkoholiker gewesen und habe sie sexuell missbraucht, erzählt sie. Ihre einzige Stütze in all den Jahren sei ihre Schwester gewesen. Doch die erkrankte irgendwann an Krebs. „Ich habe sie versorgt, bin Tag und Nacht bei ihr geblieben, bis zu ihrem Tod“, sagt Backes.

Zu dieser Zeit schlich sich der Alkohol in ihr Leben. „Der Halt war nicht mehr da. Schlimme Erinnerungen aus der Kindheit kamen zurück, ich hatte Panikattacken“, beschreibt sie. Erst seien es nur ein oder zwei Flaschen Bier gewesen, nicht einmal täglich. Am Ende trank Backes am Wochenende im Schnitt zwei Kästen Bier und vier Flaschen Wodka. Besonders schlimm wurde es, als ihre Mutter auch noch nach langer, schwerer Krankheit starb. „Ich musste die Entscheidung treffen, sie von ihren Qualen zu erlösen“, sagt sie. „Oft habe ich deshalb immer noch Schuldgefühle.“

Erst nach mehreren Entzügen schaffte es Backes, trocken zu werden. Seit einigen Wochen kämpft sie aber wieder mit dem Gedanken an Alkohol, weil ihr Bruder die Stadt verlassen hat: „Da ist wieder ein Halt weggebrochen.“

Christoph Wagner: Alkohol trinken – Das war einfach normal

Christoph Wagner, der eigentlich anders heißt, seinen Namen aber in der Zeitung nicht lesen möchte, kam schon mit 15 Jahren in Kontakt mit Alkohol. Mit 17 trank er täglich. „Das war damals normal“, sagt er rückblickend. Und während der Lehre zum Industriemechaniker sei es weitergegangen: „Da wurde auch während der Arbeitszeit getrunken.“ Alkoholkonsum habe einfach zum guten Ton gehört. Nicht nur bei der Arbeit, auch im Freundeskreis und in der Familie.

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Für Wagner war das Trinken aber auch ein Weg, um seinen Problemen zu entfliehen. Da war zum einen der Stress bei der Arbeit. „Als Monteur habe ich manchmal 80 Stunden gearbeitet, nur ganz selten zu Hause geschlafen“, sagt er. Dazu kamen familiäre Schicksalsschläge. Seine damalige Partnerin erlitt einen Schlaganfall und zwei Herzinfarkte, eines seiner Kinder kämpfte mit einer Nierenkrankheit. Seit seinem zehnten Lebensjahr leidet Wagner außerdem unter Depressionen.

„20 Flaschen Bier am Tag waren irgendwann normal“, sagt er schlicht. Der Weckruf: Eines Tages zeigte sein dreijähriger Sohn im Supermarkt auf eine Bierflasche gezeigt und rief: „Papas Lieblingsgetränk!“ Außerdem erlitt er drei epileptische Anfälle. Wagner ist derzeit trocken, an seinen letzten Rückfall kann er sich aber noch genau erinnern. „Das kommt immer wieder“, sagt er.

Eugen Macuga (69): Das Diazepam verschrieb der Arzt

Eugen Macuga stand voll im Leben, als es ihn auf einmal von den Füßen holte. Er arbeitete als Mathematik-Dozent in einer Universität, engagierte sich ehrenamtlich und stand als Fußball-Schiedsrichter auf dem Platz. „Wahrscheinlich war das alles einfach zu viel“, sagt er rückblickend. Im Jahr 1999 brach er auf einmal mitten in der Vorlesung zusammen: Notarzt, Intensivstation, Verdacht auf Herzinfarkt.

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Doch mit dem einen Kollaps hörte es nicht auf. „Ich bekam Schweißausbrüche, mir wurde schwindelig, ich stand Todesängste aus“, erinnert er sich. „Einmal habe ich die Schlange an der Supermarktkasse gesehen und bin einfach panisch rausgerannt.“ Ein Arzt bescheinigte ihm psychosomatische Störungen – und wusste vermeintlich, was helfen könnte: Das beruhigende Medikament Diazepam, besser bekannt unter dem Namen Valium.

„Nach einer knappen Woche habe ich die Welt anders gesehen. Ich wurde ruhiger, alles wurde besser“, erzählt er. Doch dann rutschte er in die Abhängigkeit. Nie habe er sich das Medikament illegal selbst besorgt, versichert er. Stattdessen habe er immer wieder die Ärzte gewechselt, um es legal verschrieben zu bekommen. Erst in diesem Jahr, über 20 Jahre und zwölf Entzüge später, konnte er sich von den Pillen lösen. Dafür brauchte es einen Schockmoment. „Ich hatte einen Kreislaufkollaps und wäre fast mit dem Kopf aufs Kopfsteinpflaster geschlagen“, berichtet Macuga. „Da wurde mir klar, dass ich hätte sterben können.“

Herner kritisieren: Alkohol- und Medikamentenkonsum wird verharmlost

Backes, Wagner und Macuga sind alle drei von ihrer Sucht losgekommen. Halt geben ihnen regelmäßige Treffen mit einer Selbsthilfegruppe der Herner Diakonie. Trotzdem haben sie teils immer wieder mit Rückfallgedanken zu kämpfen. Sie alle wollen davor warnen, wie verharmlost Alkohol- und Medikamentenkonsum immer noch sei.

„Freunde sagen manchmal zu mir: Du bist doch jetzt so lange trocken, einen kannst du doch trinken“, erzählt Backes zum Beispiel. Und Wagner berichtet davon, dass Familie und Freunde seinen Alkoholismus immer noch nicht als Krankheit anerkannt hätten. Denn Alkohol trinken sei schließlich normal. Was ihn am meisten ärgert: „Auf Zigarettenpackungen sind Schock-Bilder von kaputten Lungen gedruckt. Nach Alkoholherstellern werden Fußballstadien benannt.“

* Name geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.

>>> Hilfe bei Suchtkrankheit

  • Bei Problemen mit Suchterkrankungen hilft die Suchthilfe der Diakonie. Mittwochs von 15 bis 18 Uhr gibt es eine offene Sprechstunde an der Altenhöfener Str. 19. Individuelle Gesprächstermine kann man unter 02325-971813 vereinbaren.
  • Es gibt mehrere Selbsthilfegruppen, die sich selbstständig organisieren und ohne Anmeldung besucht werden können. Ansprechpartner ist Florian Berger (02325-971813).