Hattingen. Hattingen erlebt 1987 eins der dunkelsten Jahre seiner Geschichte: Am 19. Februar wird das Aus der Henrichshütte verkündet. Der Kampf beginnt.

Die Abrissbirne baumelt bereits seit Monaten über dem Gelände, doch am 19. Februar 1987 trifft sie Hattingens Herz. Nüchtern heißt es: „Es wurden mehrere Varianten zur Beseitigung der Verluste untersucht, insbesondere Weiterbetreiben der Grobblechstraße in Hattingen und Duisburg-Süd, Konzen­tration der Grobblecherzeugung auf die 3,7-Meter-Straße in Duisburg-Süd, Konzentration der Grobblecherzeugung auf die 4,2-Meter-Straße in Hattingen. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt, dass mit dem Weiterbetrieb beider Straßen trotz tiefgreifender Rationalisierungsmaßnahmen die Verlustsituation nicht beseitigt werden kann.“ Bedeutet: Aus für die Henrichshütte als Stahl-Standort.

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2900 Arbeitsplätzen werden an diesem Tag durch die Vorstände der Thyssen Stahl und der Thyssen-Henrichshütte ausradiert. Die 4,2-Meter-Walzstraße und die beiden Hochöfen werden stillgelegt, Mitarbeiter beim Werkschutz, bei der Feu­erwehr und in allen nicht­produzierenden Bereichen verlieren ihren Job. Die Lebensplanung von Tausenden Menschen wird mit einem Schlag zerstört.

Die Stadt Hattingen steht auf und kämpft

Doch die Stadt steht auf, sie kämpft, leistet Widerstand. Bereits am 25. Februar gründet sich das Bürgerkomitee „Hattingen muss leben – verteidigt die Arbeitsplätze auf der Hütte“. Menschen kommen aus allen Bereichen der Stadt und machen mit. Sie appellieren, organisieren, protestieren – der Hüttenkampf lebt auf.

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Hüttenkampf im Jahre 1987: Die Stadt steht auf, sie kämpft und leistet Widerstand.
Hüttenkampf im Jahre 1987: Die Stadt steht auf, sie kämpft und leistet Widerstand. © Archiv | WAZ

Ein beeindruckendes Bild gibt es am 8. März: 30.000 Menschen demonstrieren im strömenden Regen auf dem Rathausplatz – Hattingen hat nie eine größere Demo gesehen. Die Gesellschaft wird zur Gemeinschaft, die sich hinter den Hüttenarbeitern versammelt. Die Kirchenglocken läuten. Der „Aufschrei der 30.000“ geht in die Geschichtsbücher dieser Stadt ein. Auch dieser Tag hat zwar keinen Arbeitsplatz auf der Henrichshütte gerettet – aber mit dafür gesorgt, dass keine Kündigung ausgesprochen und ein engmaschiges soziales Netz geschnürt wird.

Sie sind die Gesichter des Hattinger Hüttenkampfs

Betriebsratsvorsitzender Rolf Bäcker, IG-Metall-Chef Otto König, Pfarrer Klaus Sombrowsky und Künstler Egon Stratmann sind die Gesichter des Hüttenkampfs, August Kuhnert und Rainer Sieler gehen als Silbermänner voran. Bürgermeister Günter Wüllner steht Seite an Seite mit den Arbeitern.

Über die Geschichte der Henrichshütte

Die Henrichshütte wird im Jahr 1854 gegründet – Direktor wird Carl Roth, der anregt, das Eisenhüttenwerk nach dem während der Bauzeit verstorbenen Initiator Graf Henrich zu Stolberg-Wernigerode (1772-1854) zu benennen. Ein Jahr später wird der erste Hochofen angeblasen – ein Schichtmeister, drei Steiger und 326 Arbeiter sind im Dienst.In der Blütezeit der 1950er-Jahre arbeiten auf dem 2,5-Quadratkilometer-Areal an der Ruhr bis zu 10.000 Menschen. Im Jahr 1974 kauft schließlich Thyssen das Hattinger Traditionswerk (8806 Beschäftigte). Mitte der 1970er gibt es die ersten Einschnitte: Kurzarbeit und Stellenabbau – erst gehen 700 Arbeitsplätze verloren, dann 1200.

Sechs Wochen später schließen sich 5000 Menschen zu einer 4,6 Kilometer langen Menschenkette zusammen – doch am 23. Juni gibt es dann Klarheit und Endgültigkeit: Mit der Stimme des neutralen Vorsitzenden, Alt-Bundespräsidenten Walter Scheel, beschließen die Anteilseigner die Stilllegungsmaßnahmen auf der Henrichshütte. Lediglich die Weiterverarbeitung soll in Hattingen eine Zukunft haben.

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Hattingen am 18. Dezember 1987, es ist der letzte Tag der Hattinger Stahlgeschichte. Der Hochofen wird ausgeblasen, die letzten Tropfen Flüssigstahl und viele, viele Tränen fließen. Eine Stadt ist in Trauer. Und kein anderer hat diesen Tag so gut beschrieben wie WAZ-Reporter Lutz Heuken.

Dicker Dampf steigt auf, das Ungetüm stöhnt

Er schreibt: „Punkt neun Uhr fließt am Freitag morgen das flüssige Eisen aus dem Hochofen Nr. 3 in die bereitstehenden Torpedowagen. Nach einer knappen halben Stunde tröpfelt die glühende Lava nur noch. Dicker Dampf steigt auf, das Ungetüm stöhnt. Gebannt starren viele hundert Arbeiter der Hattinger Henrichshütte auf die schwarze Silhouette vor dem grauen Dezemberhimmel. Viele nagen betreten an den Lippen. Andere wollen gar nicht hinsehen und wenden sich stumm ab. Als jeder schon denkt, ,jetzt ist der Ofen aus’, erschüttert noch einmal ein lauter Knall das Werksgelände: Die letzten Gase im Hochofen sind verpufft. Das stählerne Herz ist tot.“ 133 Jahre Roheisenerzeugung sind Geschichte.

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