Gelsenkirchen. Es gibt immer weniger Apotheken. Apothekensprecher und Amtsapotheker nennen die dramatischen Zahlen und die Gründe für das Apothekensterben.

„Wir bewegen uns auf wirtschaftlich dünnem Eis“, warnt Christian Schreiner. Der Sprecher der Apotheker in Gelsenkirchen kann sich nicht erinnern, wann die Stimmung der Kolleginnen und Kollegen „jemals so schlecht gewesen ist, wie jetzt.“ Wegbrechende Einnahmen, stotternde Digitalisierung, ausländische Online-Konkurrenz und ein gesetzlicher Flickenteppich begünstigen ihm zufolge das zunehmende Apothekensterben.

Apothekensterben: Ihre Anzahl ist in Gelsenkirchen binnen 15 Jahren um ein Drittel geschrumpft

Amtsapotheker Patrick Bartkowiak liefert die nüchternen Zahlen dazu: „Innerhalb der vergangenen 15 Jahre hat sich die Zahl der Apotheken in Westfalen-Lippe um ein Viertel verringert, in Gelsenkirchen ist ihre Anzahl sogar um ein Drittel zurückgegangen.“ Von 2230 Apotheken in Westfalen-Lippe sind bis dato nur noch 1554 (-576) übrig geblieben, in Gelsenkirchen waren es 2010 noch 75 Apotheken, heute sind es nur noch 51. Allein im abgelaufenen Jahr haben drei Apotheken in Gelsenkirchen den Betrieb eingestellt.

Als Amtsapotheker ist Bartkowiak unter anderem zuständig für die Erteilung der Betriebserlaubnis für öffentliche Haupt- und Filialapotheken sowie für Krankenhausapotheken.

Betrachtet man einen Zeitraum von 30 Jahren (1995 - 2025), so fällt der Schwund an Apotheken noch drastischer aus. „In 1995 hatte Gelsenkirchen eine Apothekenanzahl von 81 Apotheken, heute sind es 51 Apotheken“, sagt Bartkowiak. Den bisher wohl stärksten Rückgang gab es demnach zwischen 2010 und 2020, hier reduzierte sich die Anzahl der Apotheken um 20 Betriebe. Aktuell befinden sich die meisten Apotheken naturgemäß in den beiden Innenstädten, also in den Stadtteilen Altstadt (10) und Buer (9). Wo es besonders hakt, zeigt eine aktuelle Übersicht.

Die Zeiten, in denen Banken und Sparkassen jungen Apothekerinnen und Apothekern den roten Teppich ausrollten, wenn es darum ging, per Kredit ein solches eingesessenes Geschäft zu übernehmen, weil der alte Inhaber in den Ruhestand ging, sind laut Schreiner längst vorbei - selbst wenn der Umsatz die Millionenmarke knackt. Der Gelsenkirchener sagt: „Eine Apotheke mit 1,3 Millionen Euro Jahresumsatz ist heute schlichtweg unverkäuflich.“ Die Rendite lohne einfach nicht mehr.

Nana GE: Wahlen der Apothekerschaft in Gelsenkirchen

„Eine Apotheke mit 1,3 Millionen Euro Jahresumsatz ist heute schlichtweg unverkäuflich.““

Christian Schreiner
Sprecher der Gelsenkirchener Apothekerschaft

Für Schreiner liegt das daran, dass das „wirtschaftliche Risiko zu groß geworden ist“, potenzielle Nachfolger einer Pleite und hohen Schulden tunlichst aus dem Weg gehen wollen. Fragt man den Gelsenkirchener nach den Ursachen, so erhält man die Antwort, dass diese vielschichtig sind, ein Kernproblem aber geblieben ist.

Seit zwei Jahrzehnten sei die Apothekenhonorierung, die sogenannte Honorarpauschale, nur minimal angepasst worden, während zeitgleich die Kosten immer mehr zugenommen hätten. „Egal ob Mieten, Energie oder Löhne, alle Ausgaben sind gestiegen und unterm Strich bleibt für die Apotheker selbst immer weniger übrig.“

Trotz Preisanstieg: Honorar für verschreibungspflichtige Medikamente seit über zehn Jahren gleich

Apotheken machen in der Regel „80 Prozent ihres Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, die restlichen 20 Prozent kommen aus dem Verkauf von rezeptfreien Arzneien, Kosmetika oder Verbandsstoffen“. Der Medikamentenverkauf bildet also die Haupteinnahmequelle. Die dafür anfallende Honorarpauschale, auch Fixum genannt, ist gesetzlich festgeschrieben und wurde zuletzt 2013 um 0,35 Cent angehoben.

Je Medikament gibt es 8,35 Euro als Festpreis und drei Prozent von dem, was es im Einkauf gekostet hat zur Unterstützung bei der Vorfinanzierung, bis die Apotheke das Geld von der Krankenkasse erhält. Kostet ein Medikament den Apotheker im Einkauf 20 Euro, so sind das 60 Cent, bei 50 Euro sind es 1,50 Euro, bei 100 Euro sind es 3 Euro. Es gibt dazu noch einige Besonderheiten, darunter Zuschläge etwa für Notdienste (+21 Cent), aber auch einen Abschlag (-2 Euro seit Corona-Zeiten), den die Apotheken zur Stabilisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zahlen.

Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder abonnieren Sie uns kostenlos auf Whatsapp und besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.

„Ausgaben und Einnahmen gehen aber immer weiter auseinander“, benennt Schreiner die Klage aus der Apothekerschaft. Und das hat seiner Meinung nach viel mit der Konkurrenz durch Online-Apotheken zu tun, mit nur verzögert funktionierender Digitalisierung und handwerklichen Fehlern des Gesetzgebers.

Apotheken-Sprecher: Deshalb gehen die Einnahmen in Gelsenkirchen zurück

Zunächst einmal: Um Medikamente in ausreichender Zahl vorzuhalten für Patientinnen und Patienten, treten „Apotheker finanziell in Vorleistung“, erklärt Schreiner (Und sie haften voll mit ihrem Privatvermögen - eingetragen sind Apotheker nach deutschem Recht nämlich als Kaufleute oder bei mehreren Gesellschaftern als offene Handelsgesellschaft (OHG)).

Mehr zum Thema

Zudem hake es viel zu oft beim Übertragen der elektronischen Rezepte auf die Versichertenkarte. Auch das hat laut Schreiner spürbare Folgen für Apotheken. Früher seien Patienten vom Arzt aus mit dem Rezept in der Hand zur Apotheke um die Ecke gelaufen und hätten es eingelöst. „Heute kommt es oft zu Verzögerungen, wenn das Rezept hochgeladen wird“, so Schreiner weiter. Mal streikt die Technik, mal sei die Praxis einfach überlastet. Patienten suchten dann andere Apotheken auf, etwa in der Innenstadt, in der sie noch ihre Einkäufe erledigten, während sie auf das Rezept warten. „Oder sie lösen es später bei Online-Apotheken ein.“

Jede zehnte Apotheke schreibt rote Zahlen

Nach Angaben des Apothekenverbandes kommt eine typische Apotheke in Deutschland durchschnittlich auf 2,4 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Berücksichtige man alle Kosten, blieben 104.000 Euro, von denen aber noch Steuern, Investitionen und Altersvorsorge abzuziehen seien, so der Verband.

Und weiter: Jede zehnte Apotheke in Deutschland schreibt demnach derzeit rote Zahlen, ein weiteres Viertel arbeitet so, dass es dauerhaft nicht tragfähig ist. Interessensvertreter fordern eine deutliche Anhebung der Honorare, um eine weitere Schließungswelle zu verhindern.

So oder so, die Folgen bleiben laut Schreiner gleich: „Es gehen weniger Medikamente über den Tresen, ergo können wir weniger Einnahmen über die Honorarpauschale erzielen. Und für Patienten werden die Wege und Wartezeiten länger. Der Bund hat die Absicherung der Versorgung durch Apotheken vernachlässigt, Patientinnen und Patienten haben jetzt das Nachsehen.“

Vorwurf: Online-Apotheken im Vorteil wegen Rabatten bei Medikamenten und geringerer Steuerbelastung

Apropos Bund: Dem Gesetzgeber kreidet Schreiner Handwerksfehler an. Und er nennt ein Beispiel: „Rezeptpflichtige Medikamente für Tiere dürfen per Post nicht versandt werden, für Menschen aber schon.“ Und mal abgesehen von der „diskussionswürdigen Rangfolge bei Mensch und Tier“ wird diese Gesetzeslücke für die ortsansässigen Apotheken zu einem zusätzlichen Problem.

Denn die Online-Apotheken hätten eine viel günstigere Kostenstruktur, vor allem wenn sie sich im Ausland, etwa in den Niederlanden ansiedelten. „Diese Apotheken beschäftigen zum Beispiel weniger ausgebildete Fachkräfte, sie bekommen, weil sie ganze Lkw-Ladungen bei den Herstellern bestellen, wesentlich größere Rabatte auf die Medikamente und zahlen am Ende nur zwölf statt wie hier 19 Prozent Mehrwertsteuer - wie sollen wir da auf lange Sicht mithalten?“, fragt Schreiner.