Gelsenkirchen. Nie zuvor wurden so viele Polizisten, Sanitäter und Feuerwehrleute Opfer von Gewalt. Auch in Gelsenkirchen schlagen Führungskräfte Alarm.

Polizei, Feuerwehr, Ärzte und Pflegepersonal oder auch Ordnungskräfte - sie alle berichten, dass die Zahl der Übergriffe auf Einsatzkräfte ein erschreckend hohes Niveau erreicht hat. Ausgerechnet die, die sich an vorderster Front für die Gesundheit und Sicherheit anderer Menschen in ihrer Stadt einsetzen, geraten zunehmend in die Schusslinie verbaler oder tätlicher Angriffe.

Gelsenkirchen bleibt dabei nicht außen vor, das zeigen die Zahlen und Berichte, die anlässlich einer von der SPD initiierten Diskussionsveranstaltung in der Hauptfeuerwache präsentiert wurden. Mit dabei unter anderem: Feuerwehr-Chef Michael Axinger, Polizei-Gewerkschafter Daniel Laßek und Dr. Norman Hecker, Chefarzt für Notfall- und Akutmedizin am Evangelischen Klinikum. Kernbotschaft der Runde: „Der Ton ist rau geworden, der Respekt schwindet, die Hemmschwelle sinkt, .“

Schockierende Zahlen: Mehr als einmal täglich werden Einsatzkräfte in Gelsenkirchen angegriffen

Schon Heckers Zahlen lassen aufhorchen. Allein das Klinikum in der Innenstadt notierte im vergangenen Jahr 300 Attacken auf Ärzte und Pflegepersonal, „in 20 Fällen musste sogar die Polizei anrücken“, so wie vor kurzem, als ein Randalierer Besucher und Patienten in Angst und Schrecken versetzte.

Hecker zufolge ist das aber nur die Spitze eines Eisbergers, er schätzt die tatsächliche Zahl der Vorfälle „15 bis 30 Prozent höher ein“. Heißt: Beinahe täglich kommt es am EvK zu einem Angriff auf Ärzte und Pflegende. Das EvK ist aber nur eines von fünf Krankenhäusern in Gelsenkirchen. Andere sind ähnlich schlimm dran.

Tatort Notaufnahme:  In den allermeisten Fällen sind laut einer Befragung im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft Pflegekräfte von der Gewalt betroffen und am häufigsten ist die Notaufnahme der Tatort.
Tatort Notaufnahme:  In den allermeisten Fällen sind laut einer Befragung im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft Pflegekräfte von der Gewalt betroffen und am häufigsten ist die Notaufnahme der Tatort. © EvK

Rund 200 Übergriffe registrierte im vergangenen Jahr die hiesige Polizei, der Kommunale Ordnungsdienst kommt auf 45 und die Feuerwehr auf 20 registrierte Vorfälle. Das sind zusammengenommen 565 Fälle..

Angriffe auf Einsatzkräfte: von Spucken über Begrapschen bis hin zu Schlägen, Tritten und Bissen

Das Spektrum der Attacken ist breit, es reicht von „üblen Beleidigungen bis unter die Gürtellinie“ über „Drohungen“ und sexuellen Übergriffen wie „Begrabschen“ bis hin zu „Anspucken, Schlägen, Tritten und Bissen.“ Die Polizei weiß auch von Fällen, in denen Kolleginnen und Kollegen im Einsatz schon mit gezückten Messern bedroht worden sind.

Dr. Norman Hecker

„ Die Aggression geht dabei größtenteils von Männern aus, aber auch Frauen fallen inzwischen häufiger auf - mit, aber genauso ohne Zuwanderungsgeschichte“. “

Dr. Norman Hecker
Chefarzt für Notfall- und Akutmedizin am Evangelischen Klinikum Gelsenkirchen

Ein Sprecher der Polizei bestätigt, dass tatsächlich hinsichtlich der Qualität der Delikte eine Verschiebung erkennbar sei: Widerstandsdelikte nahmen zu, während Beleidigungen deutlich rückläufig sind. 

Nicht selten wird auch die „Nazi“ oder „Rassisten“-Karte ausgespielt - und das, obwohl die Belegschaften in Krankenhäusern, bei der Feuerwehr, beim Kommunalen Ordnungsdienst und auch bei der Polizei mehr und mehr interkulturell durchsetzt sind. Die Aggression geht dabei größtenteils von Männern aus, aber auch Frauen fallen inzwischen häufiger auf - „mit, aber genauso ohne Zuwanderungsgeschichte“. Das ist den Führungskräften wichtig, zu betonen. Sie sehen die Ursachen für diese Eskalationen oft verbunden mit einem niedrigen Bildungsniveau.

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Aber auch andere Faktoren spielen demzufolge eine Rolle. Uniform und Kittel, stellvertretend für Staatsgewalt, sind Hecker, Axinger und Laßek zufolge zum Feindbild geworden. Als Folge dessen rückt das Ich an erster Stelle, das eigene Problem muss sofort gelöst werden - koste es, was es wolle. Wartezeiten, der emotionale Stress und eine ohnehin angespannte gesellschaftliche Grundstimmung lassen das Eskalationspotenzial wachsen. Folge: „Eine kurze Zündschnur“, wie es Axinger nennt.

Angriffe auf Rettungskräfte: Feuerwehr Gelsenkirchen entwickelt ein einfaches Meldesystem

Die Fallzahlen dürften in der Realität größer sein, der umfangreiche Dokumentationsaufwand in Krankenhäusern, bei der Feuerwehr, bei der Polizei und bei der Verwaltung schreckt viele Dienstkräfte ab, solche Vorfälle zu melden und zur Anzeige zu bringen. Die Feuerwehr Gelsenkirchen arbeitet deshalb an einem digitalen Meldesystem, wie Michael Axinger berichtet, um diese Hemmschwellen mit einem „niederschwelligen Angebot“ zu überwinden. Auch Stadt und Polizei haben entsprechende Kampagnen gestartet, ermuntern ihre Mitarbeiterschaft, jedweden Angriff zu melden und strafrechtlich zu verfolgen.

Zwölf Kreise und kreisfreie Städte testen parallel seit 2022 das Meldeportal „IMEG“. Körperliche Angriffe, verbale, tätliche Übergriffe sowie auch Sachbeschädigungen können damit online durch Einsatzkräfte gemeldet werden. Das System gilt allerdings als teuer.

Chefarzt Hecker und das Evk haben sich aufgrund der wachsenden Gewaltbereitschaft ein Netzwerk aufgebaut, beraten andere Krankenhäuser und Einrichtungen. Für mehr Sicherheit sorgt, dass man an der Notaufnahme klingeln muss, „Einbauten und Abtrennungen verhindern“, dass ungebetene Gäste in neuralgische Bereiche vordringen können, Mitarbeitende können über einen weißen Notrufknopf am Handy Hilfe holen, wichtige Türen lassen sich sogar so verschließen, sodass Angreifer festgesetzt werden können.