Gelsenkirchen-Horst. Erst pflegte eine Gelsenkirchenerin ihren Vater, dann die Mutter. Bei ihrem Bruder verzweifelt Astrid Kaiser: Ex-Sportler sei zu mobil.
Wenn es um Pflegebedürftigkeit geht, kennt sich Astrid Kaiser aus. Erst kümmerte sie sich zwei Jahre um ihren alzheimerkranken Vater, dann betreute sie sieben Jahre lang ihre gelähmte Mutter, beide bis zu deren Tod. Neben Kind, Job und Haushalt, versteht sich. Trotzdem: So etwas wie Routine mochte sich nicht einstellen, als im Frühjahr 2023 auch ihr Bruder an Demenz erkrankte. Im Gegenteil: Die Horsterin verzweifelt, weil ihn kein Heim dauerhaft aufnehmen wolle. Mit seinen 68 Jahren sei der Ex-Sportler körperlich so fit, dass ihn nichts in den eigenen vier Wänden halte. „Für solche jungen Demenzkranken gibt‘s kaum Einrichtungen“, fordert sie neue Betreuungsformen.
Die 56-Jährige weiß natürlich von den auf Demenz spezialisierten Wohngemeinschaften, die auch durchaus in Gelsenkirchen betrieben werden. Tatsächlich kennt sie die Angebote vor Ort sehr gut, hat sie doch 2008 die Gelsenkirchener Alzheimer-Gesellschaft mitbegründet. „Damals musste ich mir Informationen zum Krankheitsbild meines Vaters und zum Umgang mit ihm mühsam zusammensuchen. Das wollte ich anderen Angehörigen ersparen. Außerdem ging es mir um einen Erfahrungsaustausch“, erzählt die Versicherungsfachfrau, die zwei eigene Agenturen in Horst und Buer betreibt. 16 Jahre später findet sie: „So richtig hat sich die Pflege-Landschaft seither nicht geändert.“
Pflege-Einrichtung gibt auf: Gelsenkirchenerin soll für Bruder anderes Heim suchen
Seit Monaten sucht sie nach einem geeigneten Heim für ihren Bruder, das dessen speziellen Bedürfnissen gerecht wird und nicht nach einigen Monaten aufgibt. „Erst vor wenigen Wochen hat mich die Einrichtung, in der mein Bruder derzeit untergebracht ist, schriftlich darum gebeten, ein anderes Heim für ihn zu suchen“, berichtet sie. Die (der Redaktion schriftlich vorliegende) Begründung: Das Haus sei für Patienten mit solch einer ausgeprägten „Hinlauf-Tendenz“ wie bei ihrem Bruder „nur begrenzt geeignet“ und personell nicht in der Lage zu aufwendigen Personensuchen. Der 68-Jährige aber gefährde sich selbst, wenn er „eingenässt und eingekotet“ orientierungslos durch die Stadt laufe.
Auch ein anderes Haus, in dem ihr Bruder zuvor über Monate betreut wurde, sei überfordert gewesen. „Als ehemaliger Wettkampf-Schwimmer braucht er regelmäßige körperliche Bewegung. Also hat er das Betreute Wohnen fast täglich verlassen, etwa um zu unserem Elternhaus zu gehen. Das Personal hat sein Fehlen aber oft erst spät gemerkt.“ Also organisierte sie einen GPS-Tracker, den er fortan immer bei sich trug, um seinen Aufenthaltsort nachzuhalten.
Starker Bewegungsdrang macht Betreuung von Gelsenkirchener Demenz-Krankem zur Herausforderung
„Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon angerufen wurde und dann mit meinem Mann losgefahren bin, um ihn zu suchen, auch spätabends. Einmal bin ich sogar nachts mit meinem Bruder zum Friedhof gefahren, um zu zeigen, dass unsere Eltern tot sind und dort begraben wurden“, erzählt sie und blättert in der Foto-Galerie ihres Handys, um Bilder zu zeigen: Von jenem Mann, der nicht nur in seinem Job als Buchhalter penibel auf Ordnung achtete und es liebte, an den Wochenenden für seinen Schwimmverein ins Wasser zu steigen. „Kein Gramm Fett hatte er damals auf den Rippen. Er war so aktiv. Und heute hat er das Sprechen verlernt, kann sich nicht mehr mitteilen und nässt sich auch tagsüber ein.“
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Dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt, erfuhr die Horsterin erstmals Anfang 2023. „Damals rief mich einer seiner Sportkollegen an, weil er im Hallenbad stundenlang auf dem Startblock stand, ohne ins Wasser zu springen. Ein Arzt diagnostizierte später eine frontotemporale Demenz, eine seltene Erkrankung, die vor allem die Persönlichkeit, das Verhalten und die Sprache beeinträchtigt.“ Seither kümmert sich Astrid Kaiser um ihn, brachte ihn erst im Betreuten Wohnen, dann in einem Seniorenzentrum unter, „für das er mit seiner Konstitution eigentlich viel zu jung ist.“
Gelsenkirchener Schwester von Demenz-Krankem steht vor einem Dilemma
Sämtliche Gelsenkirchener Demenz-WG‘s, in denen sie seither vorsprach, hätten keinen freien Platz gehabt und auf sehr lange Wartelisten verwiesen. „Außerdem haben die Leitungen immer betont, dass sie ein offenes Haus sind und die Bewohner nicht einsperren.“ Das findet Astrid Kaiser grundsätzlich auch richtig. Ihr Dilemma aber, das bleibe: „Da ist einerseits der Bewegungsdrang meines Bruders, der zu seiner Persönlichkeit, seinem Mensch-Sein gehört. Andererseits habe ich aber auch Angst, dass ihm etwas passiert, wenn er mal wieder unterwegs ist.“
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Ihn in einer geschlossenen Abteilung unterzubringen, nein, das kann sie sich nicht vorstellen. Stattdessen hofft sie, dass doch noch kurzfristig ein Platz frei wird in einer Demenz-WG, auch wenn dort vornehmlich viel ältere Menschen betreut werden. „Für die Zielgruppe der jungen Demenz-Kranken muss unbedingt mehr getan werden“, bekräftigt sie. Und: „Ich wüsste schon, was ich mit einem Lotto-Gewinn machen würde: Ein Wohnangebot für ebensolche Patienten an den Start bringen! Das wär‘s!“