Gelsenkirchen. Rammstein begeistert Millionen. Auf Schalke erlebt ein siebenfacher Vater Deutschlands Exportschlager zum ersten Mal. Eine Grenzerfahrung.

Rammstein ist ein Phänomen. Nicht jeder kann Deutschlands größtem Musikexportschlager etwas abgewinnen. Und dennoch zieht die Band weltweit Millionen in den Bann. Für beide Seiten gilt: Die einen sind fasziniert, die anderen empört. Wegen der mehrdeutigen Texte voller Sex, Gewalt und Grausamkeiten. Oder wegen der Ästhetik, die eben auch an Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl erinnern kann.

Die Fans, die am Samstag zum zweiten von fünf Konzerten in die Gelsenkirchener Arena pilgern, sind über solche Zweifel erhaben. Rammstein fasziniert die Massen mit martialischer Musik und einer atemberaubenden Licht- und Feuershow.

Rammstein in Gelsenkirchen: „Brachial und einfach überwältigend“

Für den international tätigen Investmentbanker Alexander Stern ist es das erste Mal, dass er Rammstein live sieht. Er hat noch ein letztes Ticket ergattert, der Zufall will es, dass der Dortmunder ausgerechnet neben dem Reporter landet. Der Banker wird sein Handy die nächsten zweieinhalb Stunden kaum aus der Hand legen - die Show, das Feuerspektakel, die Bühneninszenierung und die Filmprojektionen - all das findet der Vater von sieben Kindern „brachial und einfach überwältigend“.

Stern kennt die Schlagzeilen um die Missbrauchsvorwürfe gegen Till Lindemann, der „fesselnden Wirkung“ des Gesamtkonzepts Rammstein kann er sich dennoch kaum entziehen.

Investmentbanker_Alexander_Stern.jpg

„Rammstein - das ist brachial, das ist überwältigend. Sound, Licht, Show - das alles haut mich um - ich bin geflasht.“

Alexander Stern, siebenfacher Vater und Investmentbanker

Das liegt nicht daran, dass die Berliner einfach nur „mitreißend, melodische Musik“ machen, wie Stern findet. Sondern eher daran, dass der unverkennbare Gitarrensound sich aufs Wesentliche reduziert. Wiederkehrende Riffs und Tonfolgen, dazu ein im Vergleich zu anderen Rock- und Metal-Varianten – tragendes Schlagzeugtempo, all das ähnelt dem Neurowissenschaftler Erich Kasten zufolge dem Herzschlag der Mutter im Ohr des Ungeborenen.

Mehr zum Thema

Diese Regelmäßigkeit respektive Monotonie wird demnach als angenehm empfunden. Etwas Urmenschliches wird damit angesprochen. Und in dieser Rückkehr zu den Instinkten liegt demzufolge der Reiz: Es ist wie der Tanz um ein Feuer: Während der Medizinmann die Geister beschwört, verfallen die Umstehenden gleichsam mit in die Repetition.

Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder abonnieren Sie uns kostenlos auf Whatsapp und besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.

In die Rolle des Schamanen schlüpft Till Lindemann. Er donnert, grollt und setzt mit seiner tiefen Baritonstimme bei Hits wie „Sonne“, „Du riechst so gut“ oder „Zeit“ auch zu richtigen Gesangspassagen an, vor allem aber füttert der Frontmann die 55.000 Fans in der Arena mit Schlachtrufen, in die selbst Konzert-Novizen sofort einstimmen können.

Martialisch-feurige Bühnenshows sind das Markenzeichen von Rammstein
Martialisch-feurige Bühnenshows sind das Markenzeichen von Rammstein © FUNKE Foto Services | Sebastian Konopka

Mit jedem Song gewinnt Rammstein dabei die Oberhand über das schwindende Licht (offene Arena-Dach, späte Dämmerung). Dunkelheit ist ein Freund der Band. Bässe, Rhythmus, Riffs, die Menge wogt synchron mit.

Die auf die Spitze getriebene Provokation, Rammsteins Markenzeichen, verfehlt ihre Wirkung ebenso nicht: Wenn Sänger Lindemann Keyboarder „Flake“ zum Menschenfressersong „Mein Teil“ mit einem Flammenwerfer im überdimensionierten Kessel grillt. Wenn bei „Puppe“ tiefste menschliche Abgründe sich auftun und es schwarze Konfettischnipsel regnet. Oder wenn bei „Pussy“ die riesige Peniskanone literweise Schaumladungen ins Publikum verschießt. Alexander Stern ist davon gleichermaßen irritiert wie fasziniert. „Da frage ich mich schon: Ist das noch Kunst, ironisch überzogene Kritik? Andererseits: Sound, Licht, Show - das alles haut mich um - ich bin geflasht.“

Mehr zum Thema

Es ist eine Gratwanderung - und die beherrscht kaum jemand besser als Rammstein. Am besten so weit wie möglich über die Grenzen des vermeintlich Sag- und Machbaren hinaus. Das Publikum macht dabei augenscheinlich gern mit. Wie beim Auftakt am Freitag zieht eine junge Frau mehrfach blank, als sie wiederholt in den Fokus einer Kamera gerät - Realität oder Inszenierung? Egal, für Rammstein gehen die Fans durchs Feuer.

2007 wollte Alexander Stern Urlaub und Konzert miteinander verbinden. Rammstein spielten damals in Mexiko. Als der letzte Akkord von „Adieu“ erklingt, schwimmt der Vater noch auf einer Euphoriewelle, die die volle Breitseite Rock in ihm aufgetürmt hat. Im Gehen sagt er seufzend: „Wäre ich doch damals dabei gewesen - ein Fehler, nicht dorthin zu fahren.“ Will sagen: Ein Rammstein-Konzert hat den Effekt einer Sonnenfinsternis. Alle laufen ins Freie, um das Spektakel einmal live mitzuerleben.