Gelsenkirchen. Aktuelle Zahlen verdeutlichen, dass es in Gelsenkirchen ein Bildungsproblem bei Kindern gibt. Viele Erstklässler sprechen kaum Deutsch.
Seit Jahren ächzen Lehrerinnen und Lehrer unter der zusätzlichen Last, die sie zu tragen haben, weil immer mehr Kinder, die eingeschult werden, Grundlagen nicht beherrschen, die für einen Schulbesuch eigentlich nötig sind. Während manche schon kürzere Texte lesen können, können viele andere noch nicht einmal eine Linie zeichnen, alleine zur Toilette gehen oder verstehen, was der Lehrer sagt.
Die mangelnden Deutschkenntnisse vieler Erstklässler sind dabei das größte Problem, wie Pädagogen auch der WAZ Gelsenkirchen immer wieder berichten. Auf Nachfrage dieser Redaktion hat die Stadtverwaltung nun Zahlen vorgelegt, die das erschreckende Ausmaß dieses Bildungsnotstands verdeutlichen.
Dramatische Situation in Gelsenkirchen im Zehnjahresvergleich
Die Deutschkenntnisse bei Kindern mit einer anderen Muttersprache als Deutsch werden in Gelsenkirchen bei der Einschulungsuntersuchung im standardisierten fünfstufigen Screeningverfahren erhoben (siehe Infobox). Im Zehnjahresvergleich wird dabei deutlich, wie dramatisch sich die Situation in der Emscherstadt entwickelt hat.
Erhoben werden die Deutschkenntnisse nach den folgenden Parametern:
Deutschkenntnisse bei Kindern mit Migrationshintergrund (nicht deutsche Erstsprache)
1. Das Kind spricht kein Deutsch.
Das Kind kann sich mit der deutschen Sprache nicht verständlich machen.
2. Das Kind spricht nur radebrechend Deutsch.
Das Kind verfügt über einen rudimentären Wortschatz. Es kann sich in Form von Zwei- oder Mehrwortsätzen, die grammatikalisch inkorrekt sind, eingeschränkt verständlich machen.
3. Das Kind spricht flüssig Deutsch, jedoch mit erheblichen Fehlern.
Das Kind verfügt über einen ausreichenden Wortschatz und kann sich gut verständlich machen. Es werden aber noch viele und auch erhebliche grammatikalische Fehler gemacht.
4. Das Kind spricht flüssig Deutsch, jedoch mit leichten Fehlern.
Das Kind verfügt über einen guten und ausreichenden Wortschatz und kann sich gut verständlich machen. In der Spontansprache unterlaufen dem Kind noch leichte grammatikalische Fehler.
5. Das Kind spricht fehlerfrei und flüssig Deutsch. Ein Akzent wird nicht berücksichtigt.
In Wortschatz, Grammatik und Ausdruck unterscheidet sich das Kind nicht von einem Kind deutscher Muttersprache. Ein vorhandener Akzent wird nicht berücksichtigt.
Demnach hatten im vergangenen Jahr 57,3 Prozent (2013: 43,2 Prozent) der untersuchten Kinder eine andere Sprache als Deutsch als Erstsprache. Von diesen Kindern haben 66,5 Prozent (2013: 47 Prozent) keine ausreichenden Deutschkenntnisse. „Betrachtet man alle Kinder, unabhängig von der Erstsprache, hatten in Gelsenkirchen 43,3 Prozent (2013: 24,8 Prozent) der Kinder keine oder nicht ausreichende Deutschkenntnisse“, so die Stadt.
Gestiegen ist auch der Anteil der Kinder mit Deutsch als Erstsprache, die eklatante Sprachdefizite aufweisen. Dazu zählte 2023 jedes zehnte Kind in Gelsenkirchen, während es 2013 noch 6,8 Prozent waren. „Hier ist die Definition der Erstsprache allerdings zumeist aus Angaben der Eltern bestimmt“, so die Stadt.
Auch nach drei Jahren Kita können 42,1 Prozent immer noch nicht ausreichend Deutsch
Ein Schlüssel zur besseren Sprachkompetenz ist zweifelsohne der Besuch einer Kindertagesstätte. Und je länger Kinder vor der Schule in die Kita gehen, desto besser sprechen sie auch Deutsch. In Gelsenkirchens Nachbarstadt Herne will man die Rate der Kinder mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen gar auf unter zwei Prozent gedrückt haben, wenn die Kinder mehr als drei Jahre eine Kita besucht haben. „Das ist in Gelsenkirchen leider nicht zu sehen“, berichtet die hiesige Stadtverwaltung. Während bei kurzer Kitabesuchsdauer (unter 2 Jahre) 87,1 Prozent (2013: 77,3 Prozent) der Kinder mit anderer Muttersprache nicht ausreichend Deutsch sprechen, sind es bei diesen Kindern, die mehr als drei Jahre die Kita besucht haben, immer noch 42,1 Prozent (2013: 35,1 Prozent).
439 Kinder werden in diesem Sommer in Gelsenkirchen gar eingeschult, die vorher überhaupt nicht in einer „institutionellen Betreuung in Gelsenkirchen“ gemeldet waren, so die Stadt. Ob darunter allerdings auch zugezogene Kinder sind, die etwa in einer anderen Stadt in einer Kita waren, kann die Verwaltung nicht erfassen.
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Etwa 400 Kinder werden die erste Klasse wiederholen
Ein zusätzliches Problem entsteht in der Folge, weil vergleichsweise viele Kinder in Gelsenkirchen die erste Klasse wiederholen müssen. Denn das Schulsystem ist für eine so große Anzahl zu integrierender Kinder nicht ausgelegt, Lehrer und Hilfskräfte sind vielerorts mit dem schieren Ausmaß überfordert. An die 400 Kinder werden die erste Klasse im Rahmen der ein- bis dreijährigen Schuleingangsphase in Gelsenkirchen aktuell wiederholen (im vergangenen Jahr waren es 333), meldeten die Grundschulen. Eigentlich gibt es somit mehr Erstklässler in Grundschulen, als Plätze vorhanden sind. Nun wird es sieben Mehrklassen an Grundschulen im Bezirk Süd geben, 13 im Bezirk Mitte, je zwei in Nord und West sowie vier in Ost.
Die Sprachdefizite vieler Kinder, die in der Folge zu problematischen Bildungskarrieren und schließlich zu oft zu schlechten oder gar keinen Abschlüssen führen, hat auch die Stadt Gelsenkirchen längst erkannt, weshalb sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht, im Kleinkindesalter gegenzusteuern.
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Durch Eltern-Kind-Gruppen (0-6 Jahre), die in Familienzentren und Kitas angeboten werden, wird ein Zugang zu zugewanderten Familien gesucht. Innerhalb der Familiengruppe werden, je nach Alter der Kinder, entsprechende Bildungsangebote durchgeführt. Die Förderung der Deutschkenntnisse ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Im vergangenen Jahr konnten nach Angaben der Stadt so immerhin 122 Familien aus 20 verschiedenen Herkunftsländern erreicht werden.
Überdies gibt es in Gelsenkirchen weitere Angebote der Stadt, darunter auch die sogenannten „Erdmännchengruppen“. Diese richten sich an Kinder ein Jahr vor der Einschulung, die keine Kita besucht haben. Die Kinder sollen dabei ihren Wortschatz erweitern, Grammatik lernen, Sprachverständnis entwickeln. In den Gruppen werden aktuell insgesamt 112 Kinder gefördert.