Gelsenkirchen. Wie eine Initiative das schlechte Image Gelsenkirchens als Steilvorlage für eine freche Kampagne nutzt. Was Unternehmer sich erhoffen.
Nach Gelsenkirchen umziehen? Gerne hier wohnen und arbeiten? Ausgerechnet in der Stadt, deren City gerade von einem britischen EM-Touristen als „Drecksloch“ („shithole“) bezeichnet wurde? Über der gerade der verbale Mülleimer ausgekehrt wird als vermeintlich langweilig und nicht sehenswert? Die in bundesweiten Rankings mit am schlechtesten abschneidet? Richtig! Genau darum geht‘s beim Instagram-Account „Gib dir Gelsen“. Mit einem Mix aus Satire, News und Kultur wollen die Initiatoren nichts weniger, als Lust zu machen auf die Emscherstadt, durchaus mit ernsthaften Ambitionen. Sonst hätten sie nicht etliche Unternehmen als Unterstützer gewonnen fürs - Achtung, Augenzwinkern! - „best shithole“.
Was wie eine Antwort auf die aktuelle Debatte zur EM wirkt, hat seine Anfänge schon zwei Jahre vor der Fußball-Europameisterschaft: Bei einer Geburtstagsfeier von Ex-Fußballprofi und -Nationaltrainerin Steffi Jones war es, als die Idee entstand, dem schlechten Image Gelsenkirchens etwas Positives entgegenzusetzen. Bis die Initiatoren um den Filmproduzenten Philipp Schneider, Rechtsanwalt und CDU-Politiker Malte Stuckmann sowie Juwelier Alfred Weber aber tatsächlich an die (digitale) Öffentlichkeit gingen, sollte es bis Herbst 2023 dauern.
Gelsenkirchener Unternehmer unterstützen Guerilla-Marketing-Kanal
„Wir wollten heimische Unternehmen ins Boot holen, um Gelsenkirchen nach außen besser zu präsentieren, ohne eine Werbeplattform zu sein“, erläutert Stuckmann die Herausforderung. Unterhaltsam, durchaus ironisch mit dem Ruf ihrer Heimatstadt umgehen, „Baustellen“ nicht ausblenden, aber den Blick stärker auf die Vorzüge lenken, Pointen inklusive: Auf diese Stoßrichtung konnten sich die Akteurinnen und Akteure fix einigen.
Erst recht die Unternehmen, die händeringend nach Auszubildenden und Fachkräften suchen und wegen der Imageprobleme Gelsenkirchens gegenüber anderen Städten oft das Nachsehen haben, darunter die Westfälische Hochschule, das Musiktheater im Revier, Anlagenbau Hegmanns, Stölting (Reinigung, Sicherheit, Personal), IT-Firma CNS, Rohstoff-Handel Heinrichs, Friedberg (Verbindungs- und Befestigungs-Elemente), Medizin-, Pflege- und Pädagogik-Verbund KERN, IT-Dienstleister 5 Minds, die Rechtsanwaltskanzlei Stuckmann, Juwelier Weber und der Golfclub Haus Leythe. Sprich: auch international agierende Unternehmen mit Millionen-Umsätzen, die sich langfristig ein besseres Image erhoffen damit mehr Pluspunkte im Wettbewerb um Mitarbeitende.
„Der echte König von Mallorca kommt nach Gelsen“
Mit finanzieller Hilfe eines Großteils der Unternehmen wurde der Instagram-Account „Gib dir Gelsen“ aus der Taufe gehoben, und seither kokettieren sechs beauftragte Medien-Profis mit dem Charme des Underdogs, eben des Schwächeren - der gleichwohl zu punkten weiß. Unter dem inoffiziellen Motto „Jetzt erst recht“ gibt‘s nahezu täglich witzige Foto-Montagen, die aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in der Emscherstadt und darüber hinaus aufgreifen und Kritikpunkte schlagfertig gegen den Strich bürsten.
Da ist etwa der Besuch des spanischen Monarchen Felipe zum EM-Spiel Spanien gegen Italien in der Arena, der kommentiert wird mit „Der echte König von Mallorca kommt nach Gelsen“, flankiert vom Menüvorschlag „El plato de taxi“ (Pommes, Gyros, Currywurst), einem Bild der königsblau dekorierten Friesenstube („Mi casa es su casa“ - „Mein Haus ist dein Haus“) und vom Nordsternturm samt Herkules-Figur, Gelsenkirchener Entsprechung der berühmten Kirche Sagrada Familia in Barcelona.
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Dann sind da Video- und O-Ton-Schnipsel der bundesweit bekannten Sängerin und Schauspielerin Lary, die von ihrer Kindheit und Jugend in Ückendorf erzählt und ganz nebenbei ihrer Heimat eine authentische Liebeserklärung macht. Oder Videos von EM-Touristen, euphorische Loblieder singend auf „den besten Gastgeber in Deutschland“, die einfach nur Spaß haben auf dem proppevollen Heinrich-König-Platz.
Oder eine frech Foto-Montage, die Gelsenkirchens Zuschlag für drei Taylor-Swift-Konzerte visualisiert und den vielgepriesenen Metropolen Köln und Berlin damit eine lange Nase zeigt: Während die Emscherstadt, symbolisiert durch ein Mädchen am Beckenrand eines Schwimmbads, seiner Mutter juchzend in die Arme springt, droht ein anderes Kind (Köln) unterzugehen; Berlin wiederum ruht als Skelett am Meeresboden. So geht Schadenfreude im Gelsen-Style!
Gibdirgelsen: charmant-schnoddriger Ruhrpott-Klartext
Dabei sprechen die Macher charmant-schnoddrigen Ruhrpott-Klartext, etwa wenn sie unter der Losung „Heute Gelsen, morgen Oxford“ auf die Studiengänge der Westfälischen Hochschule verweisen: „Hier kannste was werden, trotz letztem Platz im Städeranking. Oder gerade deshalb.“
„Wir wollen einen Einblick in das Leben und den Alltag in Gelsenkirchen geben und zeigen, wie geil es ist, hier zu leben“, bringt Schneider seine Motivation auf den Punkt. Und Stuckmann ergänzt: „Hier gibt‘s so viel Positives. In Gelsenkirchen lässt es sich mehr als gut leben und arbeiten. Wir hoffen, dass darauf auch Menschen in anderen Städten aufmerksam werden“, etwa wenn sie einen neuen Job oder Wohnort suchen. Dazu sollen auch die Veranstaltungs-Ankündigungen beitragen („Was geht, Gelsen“ und „Was geht, Pott“), die zeigen: Die Stadt bietet jede Menge Freizeit- und Kultur-Angebote, bis hin zum Star-Aufgebot mit Konzerten von Taylor Swift, Rammstein und (kürzlich) ACDC.
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Wichtig ist den Initiatoren dabei der Blick aufs große Ganze Gelsenkirchens, auch über den Rand der Quartiere hinaus. Und: „So bedeutsam die Steinkohle in der Vergangenheit war: Wir wollen in die Zukunft schauen und ausloten, was an neuen Entwicklungen nötig und möglich ist“, so Schneider. Darauf ist auch der Digital Campus Zollverein bereits aufmerksam geworden. „Er hat zugesagt, uns ebenfalls zu unterstützen“, freut sich Stuckmann. So viele Vorzüge ein Underdog auch haben mag: Hilfe kann er immer gebrauchen!
Zum Instagram-Kanal: https://www.instagram.com/stories/gibdirgelsen/