Essen. Im Essener Norden ist die AfD besonders stark. Bei der letzten Wahl holte sie vielerorts über 20 Prozent. Ein Ortstermin auf dem Wochenmarkt.

Auf dem Altenessener Wochenmarkt, der hinter dem Allee-Center liegt, gibt es an diesem Tag Obst und Gemüse, Fisch und Brot, sehr billige Textilien, zum Beispiel Pullis für zwei Euro, und reduzierte Wurstwaren. Händler René Wieck hat großen Zulauf mit seiner abgepackten Salami und den Fleischwurst-Ringen für 6,50 Euro. „Die Leute“, sagt Wieck, „wählen AfD, weil sie Angst haben, abends rauszugehen. Die Älteren vor allem.“

In der Kundenschlange steht Michael Loh (62) aus Altenessen. „Ich wähl‘ diesmal die AfD zum ersten Mal“, sagt er. „Ich hab‘ schon alles gewählt in meinem Leben. Aber die Alt-Parteien haben ja alle ihre Versprechen nicht gehalten.“ Loh selbst hat Metaller gelernt, kann aber in seinem Job nicht mehr arbeiten, „ich hab‘ Knie und Rücken kaputt“. Deshalb ist er aktiv als Ein-Euro-Jobber im Garten- und Landschaftsbau. „Das ist aber eine schöne Beschäftigung, ich mach‘ das gern.“

Doch die steigenden Preise für die Lebensmittel machten ihm zu schaffen, sagt er. „Man kann sich ja kaum noch Fleisch leisten.“ Oder dass das Deutschland-Ticket teurer geworden ist, von 49 Euro auf jetzt 58 Euro. „Deshalb wähl‘ ich jetzt die AfD. Mal gucken.“ Eine pensionierte Lehrerin (82), die Lohs Worte mitbekommt, schaltet sich ein: „Ich hab‘ Leute in meinem Freundeskreis, die haben alle studiert und wählen jetzt trotzdem die AfD, ich finde das ganz schrecklich.“ Loh hört das und wendet sich ab.

Infostand der AfD am Rande des Altenessener Marktes. Demonstranten und die Polizei sind oft nicht weit.
Infostand der AfD am Rande des Altenessener Marktes. Demonstranten und die Polizei sind oft nicht weit. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Warum wählen so viele Leute AfD, besonders im Essener Norden? Wir sind in Altenessen-Mitte, zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Heute ist Wochenmarkt, die AfD hat ihren Stand vor dem Allee-Center aufgebaut, dem örtlichen Einkaufs-Center, ein paar hundert Meter weiter beäugen ein paar bunthaarige Jugendliche der Antifa-Szene das Treiben kritisch. Das ganze Zusammenspiel - hier die AfD, da die Antifa - wird wiederum beobachtet von mehreren Polizisten in Mannschaftswagen. Günter Weiß, der Sprecher des Essener AfD-Kreisverbands sagt: „Wir bekommen noch mehr Zuspruch als sonst.“

Dass die AfD vor zwölf Jahren bundesweit vor allem als Anti-Euro-Partei angefangen hat, ist aber heute nicht mehr der springende Punkt. „Nein, die müssen alle Grenzen wieder zumachen“, sagt eine Mutter Anfang fünfzig, die mit ihrem jugendlichen Sohn an diesem Morgen am Altenessener Markt viel Zeit am Infostand verbringt und angeregte Gespräche mit AfD-Vertretern führt. „Die ganzen Messer-Attacken, Magdeburg, jetzt Aschaffenburg, das muss ein Ende haben.“

Hier die AfD am Rand des Wochenmarktes, dort linke Antifa-Aktivisten, dazwischen die Polizei

AfD-Mitglied Helene Pister macht Wahlkampf auf dem Altenessener Markt.
AfD-Mitglied Helene Pister macht Wahlkampf auf dem Altenessener Markt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Seine Parteifreundin Helene Pister verteilt unterdessen Kulis und Einkaufswagen-Chips und Faltblätter, sie hat sich die Haare AfD-blau gefärbt, trägt ein Käppi: „Alice for Deutschland“. Seit Ende 2024 ist Helene Pister in der AfD, sie ist gelernte Maschinenanlagenführerin. „Mein Vater war Eisenflechter, der hat 47 Jahre gearbeitet und kriegt jetzt 1100 Euro Rente, das kann nicht sein.“

Während sie das erzählt, geht ein gebeugter Mann mit weißen Haaren, erkennbar gebrechlich und mit Krücken unterwegs, auf den Stand zu und ruft den AfD-Leuten mit brüchiger Stimme entgegen: „Habt Ihr aus der Geschichte nichts gelernt?!“

Im Frühjahr erreichte die AfD in zwölf Stadtteilen 20 Prozent und mehr

Bei der Europawahl im Mai 2024 erreichte die AfD in zwölf Essener Stadtteilen 20 Prozent und mehr. In fünf Stadtteilen wurde sie stärkste Kraft, schob sich noch vor CDU und SPD: in Vogelheim, Bergeborbeck, Karnap, Katernberg und Altenessen-Süd. Die niedrigste Quote erzielte die AfD in Rüttenscheid mit 5,7 Prozent. In den aktuellen Umfragen steht die Partei aber diesmal noch um einiges besser da als vor einem Dreivierteljahr.

Markthändler René Wieck kriegt einiges mit auf dem Altenessener Markt.
Markthändler René Wieck kriegt einiges mit auf dem Altenessener Markt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska
Die AfD-Stimmanteile in Essen bei der Europawahl im Mai 2024.
Die AfD-Stimmanteile in Essen bei der Europawahl im Mai 2024.

Eine Frau Anfang 70 sagt: „Ich fühle mich in Altenessen nicht mehr zuhause“

Auch die SPD hat heute ihren Wahlkampf-Stand aufgebaut, und Ingo Vogel, Direktkandidat für den Essener Norden, sagt: „Das Seltsame ist, dass wir auf der Straße viel Zustimmung bekommen. Sie schlägt sich nur nicht in den Umfragen nieder.“ Alle Voraussagen sehen die Sozialdemokraten bundesweit zwischen 15 und 18 Prozent. Auf jeden Fall deutlich auch hinter der AfD. „Die AfD“, kommentiert Vogel, „trifft mit ihrem Populismus den Nerv der Unzufriedenen.“

Früher hätte sich Ingo Vogel, der von Beruf Polizeibeamter ist, schon jetzt vorsorglich nach einer Bleibe in Berlin umsehen können. Denn dass die SPD im Wahlkreis Essen-Nord nicht das Direktmandat holt, war jahrzehntelang zwar theoretisch möglich, faktisch aber ausgeschlossen.

Diesmal sieht es anders aus. Das Portal Wahlkreisprognose.de sieht bei der Erststimme, mit der der lokale Bundestagskandidat gewählt wird, SPD, AfD und CDU relativ nah beieinander, derzeit aber den CDU-Kandidaten Florian Fuchs tendenziell knapp vorn. Unter Umständen reichen für den Gewinn des Wahlkreises weniger als 30 Prozent der Stimmen. Auch AfD-Mann Guido Reil hat durchaus Chancen. Für die Essener SPD wäre das ein Desaster.

SPD-Wahlkreiskandidat Ingo Vogel hat mit starker Konkurrenz zu kämpfen, zu der auch die AfD zählt.
SPD-Wahlkreiskandidat Ingo Vogel hat mit starker Konkurrenz zu kämpfen, zu der auch die AfD zählt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein Ehepaar Anfang 70 steht auf dem Markt vor Kleiderständern, an denen Kunstledergürtel für zehn Euro hängen. „Ich wohn‘ seit 70 Jahren in Altenessen, bin hier geboren und war immer hier, aber ich fühl‘ mich nicht mehr zuhause“, sagt die resolute Frau. „Wir haben viele türkische und libanesische Freunde, aber es gibt mittlerweile so viele Migranten, die wollen gar nicht mehr unsere Sprache lernen, die nehmen unsere Kultur nicht an.“ Die Folge: „Altenessen verdreckt zusehends, wird asozial. Der Zusammenhalt ist weg. Die Gemütlichkeit. Man fühlt sich einsam.“

Die Quote der Menschen ohne deutschen Pass in Essen stieg in knapp 40 Jahren von 6,4 auf 20,5 Prozent

Abgesehen von der Frage, ob Migrantinnen und Migranten die deutsche Kultur annehmen oder nicht: Ihre Zahl in Essen ist erheblich gestiegen, während die Zahl von Menschen, die allein den deutschen Pass besitzen, abgenommen hat. Zählte man in Essen im Jahr 1987 noch knapp 580.000 Bürger mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit, waren es im vergangenen Jahr nur noch rund 400.000. Der Anteil von Bürgerinnen und Bürgern ohne deutschen Pass stieg von 6,4 Prozent (1987) auf 20,5 (2024). Hinzu kommen rund 13 Prozent Doppelstaatler.

Das Altenessener Ehepaar lässt die Kunstledergürtel hängen und verlässt den Wochenmarkt. „Aber AfD wählen“, sagen sie streng, „würden wir trotzdem nie.“ (mit F.S.)

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