Essen. Schon als Teenager konsumiert der Essener regelmäßig Cannabis und Alkohol, dann Amphetamine. Er verliert Job und Wohnung, muss ganz neu anfangen.

Das erste Glas Bier, der erste Joint – als Jugendlicher tut Jannis*, was die meisten in diesem Alter tun: Grenzen austesten, sich über Verbote hinwegsetzen. Doch für ihn bleibt es nicht beim Ausprobieren, oder bei gelegentlichen Party-Gelagen: Als er 17 ist, gehören Cannabis und Alkohol zu seinem Alltag, er ist auf dem Weg in die Sucht.

Heute ist Jannis 24. Ein durchtrainierter, gesund aussehender junger Mann, der das Leben vor sich hat. Der reflektiert erzählt, der seine Krankheit im Griff zu haben scheint, und der hofft, nun endlich durchstarten zu können. Er möchte seine Geschichte erzählen, um andere aufzurütteln. Aber auch, um Mut zu machen.

Weil er vor der Arbeit kifft und dann krank feiert, verliert Jannis seine Ausbildungsstelle

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Ein Blick zurück: Jannis ist 17, macht eine Ausbildung als Kaufmann im Einzelhandel. Die Arbeit gefällt ihm, mit den Kollegen und Vorgesetzten kommt er gut aus, der Kundenkontakt macht ihm Spaß. Doch er kann nicht lange auf Cannabis verzichten, kurz hat er aufgehört, konsumiert jetzt aber täglich. Alkohol trinkt er nicht so oft, „aber wenn, dann richtig, bis zum totalen Absturz“. Nach etwa einem Jahr bekommt er die Kündigung: Zu oft hat er vor der Arbeit gekifft und sich krank gemeldet. Mit dem Verlust des Ausbildungsplatzes gibt es in seinem Leben, das schon vorher schwierig war, plötzlich keine Ziele mehr. Es scheint, als wären mit der Kündigung alle Fäden gekappt, die ihn irgendwie in der Spur hielten.

Sein Alkoholkonsum steigt. Während andere ihre Zukunft planen und langsam erwachsen werden, lebt Jannis nur noch von Tag zu Tag: Möglichst lange schlafen, kiffen, zocken, saufen. So sieht sein Alltag aus. „Ich würde lügen, wenn ich sage: Das hat keinen Spaß gemacht.“ Schlecht fühlt er sich nur, wenn er allein und nüchtern ist. Dann kommen die Depressionen, dann muss er sich „seinen Dämonen stellen“. Dass er eine posttraumatische Belastungsstörung hat, wird er erst sehr viel später, während seiner Therapie erfahren.

„Ich würde lügen, wenn ich sage: Das hat keinen Spaß gemacht.“

Jannis

In Filmen und Romanen gibt es oft diesen einen Moment, den Wendepunkt, wenn der Protagonist plötzlich begreift, dass er etwas ändern muss. Ob er zwischendurch gemerkt habe, dass etwas aus dem Ruder läuft? Dass es so nicht weitergehen kann? Jannis verneint. Er habe keinen Leidensdruck wegen der Sucht gehabt, erzählt er. Wegen anderer Dinge: ja. Doch die Drogen sorgen für ein „angenehmes Gefühl im Kopf, auf Zeit“. Und wenn diese Zeit um ist, legt er nach.

Er bekommt erstmals Hartz 4, zieht nach Rüttenscheid, „in eine schöne kleine Wohnung“, reduziert seinen Alkoholkonsum etwas und nimmt widerwillig an berufsvorbereitende Maßnahmen teil. Das Wechselspiel aus depressiven Phasen und Cannabis-Konsum lässt ihn auch diese Möglichkeiten „in den Sand setzen“, wie er erzählt. Er habe keinerlei Interessen mehr gehabt, außer eben Kiffen und Zocken.

Über einen Freund kommt Jannis erstmals mit Amphetaminen in Kontakt, bald nimmt er sie ständig

Er wird 19 und nimmt den Kontakt zu seiner Mutter wieder auf, ebenso wie den regelmäßigen Alkoholkonsum. Auch die Mutter trinkt, weshalb Jannis schon als Elfjähriger ins Heim kam, wo er blieb, bis er 16 war. Nicht die beste Zeit in seinem Leben: Die Betreuer seien überwiegend in Ordnung gewesen, doch die anderen Jugendlichen hätten ihn gemobbt. Seine ersten Cannabis- und Alkoholerfahrungen stammen aus dieser Zeit.

Waren es vorher meist Unmengen von Bier, steigt er nun konsequent auf Hochprozentiges um, trinkt ein paar Wochen lang täglich Wodka. Bis er erstmals Amphetamine probiert, die ein Freund ihm anbietet. „Das war ein neues, schönes Gefühl, ein dauerhaftes Hoch in meinem Kopf“, sagt er. Er habe sich als aktiv und konzentriert erlebt, etwa zwei bis drei Stunden lang wurde aus dem trägen, lustlosen Jannis ein ganz anderer Mensch. Es ist niemand da, der verhindert, was nun geschieht: Jannis organisiert sich einen Dealer und rutscht immer weiter in die Sucht hinein: Mit 20 nimmt er regelmäßig Amphetamine, weiterhin Cannabis, und ab und zu MDMA, auch als Ecstasy bekannt.

Als er seine Wohnung verliert, lässt Jannis seinen gesamten Besitz einfach dort zurück

Kurz hat er die Idee, seine Zukunft nochmal anzupacken, doch da steckt er schon zu tief in einem Umfeld, in dem Drogen Normalität sind. Monatelang kommt er bei einer Bekannten unter. Ständig sind dort weitere Besucher, die alle konsumieren. In seiner eigenen Wohnung ist er kaum noch, bekommt nur zufällig mit, dass er sie verloren hat: „Das Geld vom Amt kam nicht mehr, weil ich keine gültige Adresse hatte.“ Der Vermieter hat ihm bereits vor Monaten gekündigt. Jannis versucht erst gar nicht, seine Möbel, seine Kleidung, seine persönlichen Sachen zu holen.

„Das Geld vom Amt kam nicht mehr, weil ich keine gültige Adresse hatte.“

Jannis

Kurzzeitig hat er eine Beziehung und ist mit Drogen und Freundin beinahe glücklich: „Ist doch alles ok so, dachte ich.“ Zwischenzeitlich hat er sich von einem Hausarzt, der ihn kaum kannte, Stimmungsaufheller gegen Depressionen verschreiben lassen, angeblich vollkommen unhinterfragt. So schildert es Jannis.

In der Therapie im Kamillushaus in Essen-Werden fasst Jannis Mut für einen Neuanfang

Nach einem „furchtbaren Streit“ muss er bei seiner Freundin ausziehen, und geht in ein CVJM-Übergangsheim. Er ist nun wohnungslos, arbeitslos und fühlt sich vollkommen allein. So oft wie möglich, nimmt er alle verfügbaren Substanzen parallel. Im August 2022 schließlich macht er aus eigenem Antrieb eine Entgiftung: Dort beginnt er, Sport zu treiben, fühlt sich wohl. „Eine gute Erfahrung.“ Doch der Suchtdruck ist so stark, dass er nach zwei Wochen aufgibt. „Ich bin rausgekommen und es ging sofort weiter wie bisher.“ Irgendwann löst er sich von den Amphetaminen, bleibt aber beim Cannabis. Er bekommt Bürgergeld, kauft sich seine Drogen und isst nur einmal pro Tag.

An diesem Punkt sieht es so aus, als sei das nun Jannis‘ Leben. Bis die Panikattacken kommen und ihm ein Weitermachen unerträglich erscheint. Im März 2024 schließlich beginnt er eine stationäre Therapie im Kamillushaus in Heidhausen: Er lernt dort viel über sich, über sein Trauma, über seine Sucht. Er legt an Gewicht zu, treibt fünfmal pro Woche Sport: einmal Ausdauer, viermal Krafttraining. Er übt Strategien zum Umgang mit dem Suchtdruck. Er liest, zeichnet, spielt Tischtennis. Er geht zur Selbsthilfegruppe und sucht sich Notfallkontakte. Und er denkt erstmals wieder darüber nach, was aus ihm werden könnte: Er will es noch einmal mit der Ausbildung versuchen, die ihm Spaß gemacht hat. Sieben Jahre liegt die nun schon zurück. Vielleicht ist er jetzt soweit, dass er sein Leben beginnen kann. Etwas später als viele andere, aber noch nicht zu spät.

* Zum Schutz seiner Persönlichkeit bleibt der Protagonist dieser Geschichte anonym. Sein Name ist der Redaktion bekannt.

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