Essen. Explosive Stimmung in den Kitas: Überlastete Erzieherinnen, finanzielle Nöte und drohender Kollaps. Aus dem Alltag in Essener Einrichtungen.
Weinend hat kürzlich erst eine Erzieherin gekündigt, andere sind bereits seit zwei Jahren nicht mehr arbeitsfähig, wegen hoher Krankenstände werden Gruppen kurzfristig geschlossen, berufstätige Eltern verzweifeln: „Die Stimmung vor Ort in den Kitas ist explosiv“, beschreiben Verantwortliche des Trägers VKJ Ruhrgebiet. Bei einem Treffen im Krayer Familienzentrum Simsalagrim ging es um überlastete Erzieherinnen, finanzielle Nöte, einen drohenden Kita-Kollaps – und um die vielen Kinder, die darunter leiden.
Leo (5) gefällt alles in seiner Kita. Wie Timo und seinen Altersgenossen auch. Am liebsten spielen sie draußen, ein Pool wäre schön. 110 Mädchen und Jungen kommen jeden Tag an die Grimbergstraße, werden in sechs Gruppen von 7 bis 17 Uhr betreut, toben auf dem Außengelände, manche halten Mittagsschlaf, sie basteln, nähen, backen, singen oder lernen etwas über Sonnenschutz.
Kinder aus 14 Nationen besuchen die Einrichtung, die in einem der Essener Brennpunkte liegt, zu dem eine hohe Zahl an Bürgergeldempfängern ebenso gehört wie der extreme Kitaplatzmangel. So kämen manche Kinder erst mit fünf Jahren zu ihnen, sagt Leiterin Rosa Hermann, die seit 15 Jahren in der Kita arbeitet und diese seit fünf Jahren leitet. Einige Kinder blieben lange, dann könne man mitunter viel bewirken.
Je nach Geschichte, die sie mitbringen, können sie erst mit sieben oder acht Jahren eingeschult werden. Sprache sei eine riesige Herausforderung, vor allem dann, wenn es zu Hause zwei Familiensprachen gebe. Das passiere, wenn sich etwa Mutter und Vater erst in Deutschland kennengelernt hätten. „Manche Kinder können gar kein Deutsch und können das Erlernte leider nicht zu Hause anwenden“, beschreibt sie eine Schwierigkeit. „Chancengleichheit schaffen“: Das sei ihr Ziel und gleichzeitig Utopie.
Den Simsalagrim-Alltag bewältigen neben 15 Erzieherinnen auch zwei Köchinnen, die beim Fleisch ausschließlich Hühnchen wählen. Das sei der gemeinsame Nenner, bei dem jedes Kind mitessen könne, sagt die Leiterin zu dem pragmatischen Vorgehen. „Den Kindern fällt das ohnehin nicht auf.“ Sie hat längst ebenso gelernt, schwierige Themen mit Witz und Humor anzugehen. Kulturelles Gut sei eben wichtig, damit sich alle angenommen fühlten. So seien Verständnis und Respekt auch unter den Eltern gewachsen, weil sie in der Kita alle Feiertage würdigen und ebenso Opferfest, Zuckerfest sowie das chinesische Neujahrsfest feierten.
Die Sorgen in der Kita spüren die Kinder etwa dann, wenn Erzieherinnen krank werden, oft wechseln oder ausfallen und sie zu Hause bleiben müssen, wenn die Kinder ihre Eltern wütend darüber erleben. Andere Probleme erreichen den Nachwuchs (noch) nicht, sind aber für die Verantwortlichen längst zum drängenden Thema geworden. Über diese sprachen Verantwortliche des Trägers VKJ Ruhrgebiet (zu ihm zählen 25 Kinderhäuser, darunter 18 Familienzentren), Erzieherinnen und Mütter in Kray beim Besuch der Essener Grünen-Landtagsabgeordneten Gönül Eğlence. „Ich bin keine Kinderpolitikerin, möchte aber viel mitnehmen und zuhören“, versicherte diese und bekam dazu reichlich Gelegenheit.
„Wir haben Riesenprobleme an allen Ecken“, nahm Rosa Hermann vorweg. Dahinter steckten sowohl Existenzängste, Personalnot als auch das Wissen, dass sie längst nicht alles ermöglichen können, was eigentlich für die Kinder notwendig wäre. 12.000 Euro müsse die Einrichtung jedes Jahr selbst aufbringen. Ein Kraftakt, bei dem sie sämtliche Veranstaltungen und Feste besuchen und die Eltern zahllose Waffeln backen. „Wenn wir die Summe nicht zusammentragen, gerät die Kita in Gefahr.“
Der Krankenstand in manchen Essener Kitas ist um 50 Prozent gestiegen
Schließlich kosten Angebote wie das frisch gekochte Essen oder die logo-motopädische Förderung im Haus auch einiges. Andererseits aber würden politische Entscheidungen getroffen, wie die, dass Zeiten für Inklusions-Assistenten gekürzt werden, nennt VKJ-Geschäftsführerin Vera Hopp ein weiteres Puzzleteilchen in der Gemengelage. Müssen dann Erzieherinnen ein behindertes oder auffälliges Kind zusätzlich betreuen, bedeute das schlichtweg Mehrbelastung. Gelinge das nicht, seien blaue Flecken, Bisswunden oder herumgeworfene Stühle mögliche Folgen.
Konsequenzen für die Gesundheit belasten ohnehin viele Erzieherinnen. Diese wollten durchaus bis zur Rente arbeiten, würden aber oft krank oder stiegen aus – nicht ohne zu erwähnen, dass sie sich von ihrem „Herzensjob“ verabschiedeten. Der Krankenstand sei um 50 Prozent gestiegen, sagt sie mit Blick auf die Personalprobleme und bezieht nicht einmal die Pandemiephase ein. „Der Personal-Kind-Schlüssel passt einfach nicht“, kritisiert Vera Hopp Politik und Gesetze. Der sehe vor, dass eine Gruppe mit regulär bis zu 25 Kindern von einer Erzieherin und einer Ergänzungskraft betreut werde. „Wird die Erzieherin krank, ist die Gruppe zu.“ Da helfe es auch nicht, dass sie alle Planstellen besetzt habe.
Was sie besonders besorgt, ist, dass ihre Kolleginnen mitunter schwer und lange erkrankten: „Wir sehen, wie die Kolleginnen in den Burnout rennen.“ Auch Leitungskräfte fielen wegen Erschöpfung oder Burnout aus – manche über Jahre. Inzwischen gebe es einen Springerpool, der aber sei nicht refinanziert.
42 Millionen Euro Rücklagen habe der Vkj inzwischen aufgebraucht. „Ich habe Stellen gestrichen in der Küche, Verwaltung und bei Projekten“, listet Vera Hopp auf. Das aber reiche nicht, da die Kita-Finanzierung in NRW einfach deutlich schlechter sei als in anderen Ländern. So haben sie inzwischen demonstriert in Düsseldorf, haben Ministerpräsident Hendrik Wüst eingeladen und Petitionen geschrieben. Der Landes- und Familienvater aber lasse sich nicht blicken. Nach Ralf Witzel (FDP) ist Gönül Eğlence nun die zweite aus der Politik in Kray, die sich Sorgen und Unmut anhört.
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Mütter erzählen ihr, dass die Kita im Vorjahr in zwei Monaten gleich zweimal überraschend schließen musste. „Wie erkläre ich das meinem Chef“, schoss es Mandy Wendeler sofort durch den Kopf, da sie täglich von acht bis zwölf Uhr in der Arztpraxis arbeitet. „Wird meine dreijährige Tochter nicht betreut, hilft mir auch mein Teilzeitjob nicht.“ Während Sarah Wiesner schon mit Bauchschmerzen auf ihren Wiedereinstieg in den Job blickt. Ihre beiden Söhne sind bereits in der Kita, deren Schwester soll nächstes Jahr folgen. Dann möchte die gelernte Erzieherin wieder arbeiten und ist bekümmert wegen der Umstände.
„Wenn eine junge Kollegin auf eine ältere trifft, die kurz vor dem Burnout steht, fängt die Neueinsteigerin alles ab“, beschreibt Rosa Hermann ein Beispiel. Kein Wunder, dass manche nach zwei Jahren hinschmeißen. Erschwerend komme der Fachkräftemangel hinzu, der schon bei der Ausbildung beginne, da es erst gar nicht genügend Lehrer und Klassen gebe. Für die Kinder bedeute das ständig wechselnde Bezugspersonen in Kita, Schule und später am Ausbildungsplatz. „Bindung gleich Bildung ist Theorie“, sagt die Leiterin, die weiß, dass mancher da später lieber ausschläft und Bürgergeld bezieht statt zu arbeiten. Arbeitslose Jugendliche verursachten aber deutlich mehr Kosten, als angemessen bezahlte Kitas, die besser helfen könnten, diesen Werdegang zu vermeiden.
„Wir müssen die Basis hier schaffen“, sagt Rosa Hermann. Sie selbst seien bemüht, sich gegenseitig mit Menschlichkeit und Freundlichkeit zu motivieren und bei Laune zu halten. Selbst bei kritischen Elterngesprächen samt Beschimpfungen und Beleidigungen müssten sie schließlich Haltung bewahren und nett lächeln. Irgendwann aber, breche das alles zusammen. Sie sprechen vom drohenden Kita-Kollaps in NRW.
Bei aller leidenschaftlichen Diskussion und Vergleichen mit anderen Ländern lässt sich zwar eine Lösung bei diesem Treffen nicht finden. Ohne eine bessere Finanzierung und mehr Fachpersonal wird es nicht gehen - da sind sich alle am Tisch einig. Mit Floskeln wie „Die Tischdecke ist zu kurz“ mag sich Rosa Herrmann von Politikern jedenfalls nicht länger abspeisen lassen: „Dann nähen Sie endlich eine neue Decke.“
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