Essen. Ein Erzieher, 23 Kinder – Kita-Leitung Aysel Ziyansiz erzählt von ihrem Umgang mit der Personalnot: Die Leidtragenden seien dann die Kinder.
- Einmal im Monat kommen Erzieherinnen und anderes Fachpersonal der Essener Kitas seit März unter dem Motto „Es donnert in den Kitas“ zusammen.
- Wir haben mit Aysel Ziyansiz gesprochen. Sie ist stellvertretende Leiterin der Awo-Kindertagesstätte Schalthaus Beisen in Essen und sagt, die Situation spitze sich zu.
- Dieser Artikel ist zuerst im Juni 2024 erschienen, da die Protestaktion in dieser Woche, am 4. Juli fortgesetzt wird, veröffentlichen wir ihn hier nochmal.
Essener Kitaleitung: „Wenn viele fehlen, kriege ich die Krise“
Die Sozialpädagogin Aysel Ziyansiz ist mit Idealen in ihr Berufsleben gestartet. „Jedes Kind hat das Recht auf individuelle Bildungschancen, individuelle Zuneigung und Empathie im Rahmen der Inklusion“, sagt sie. Ihre Ideale sind noch heute da, nur kommen sie im Kita-Alltag oft zu kurz.
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Ein typischer Morgen sieht für Aysel Ziyansiz wie folgt aus: Nachdem die stellvertretende Leiterin um 7.30 Uhr auf ihrem Weg von der Kita-Tür zu ihrem Büro Kinder begrüßt, Fragen von Kolleginnen, Kollegen und Eltern beantwortet, fällt ihr erster Blick auf die Personalinfo: Wer fehlt? „Wenn viele fehlen, kriege ich die Krise“, erzählt sie. Dann muss sie überlegen, wie sie die Personalausfälle abfängt, im schlimmsten Fall Gruppen schließen.
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Statt individuell zu fördern, können Kitas in Essen bei Personalmangel bloß betreuen
Die Kita Schalthaus Beisen sei „personaltechnisch verhältnismäßig gut aufgestellt“. Hier treffen 112 Kinder im Alter von null bis sechs Jahren auf rund 20 Fachkräfte, eine Küchenkraft und einige Praktikanten. Daher müsste Ziyansiz selten Gruppen komplett schließen. Sie weiß aber: In anderen Essener Kitas kommt es durchaus vor, dass Gruppen schließen und lediglich Notgruppen betreuen – dann werden Eltern, die zuhause sind, gebeten, ihre Kinder dazubehalten.
So oder so: „Wenn wir eng besetzt sind, was häufiger vorkommt, geht das an die Kinder“, sagt Ziyansiz. Denn wenn eine Erzieherin mit 23 Kindern alleine ist, von denen „eins in die Hose macht, eins bricht, drei dringend ihre Fragen beantwortet haben möchten und zwei im Nebenraum schreien“, sei keine individuelle Förderung, höchstens eine Betreuung möglich. „Dann überleben wir einfach bloß.“
Kitaleitung aus Essen fordert eine attraktivere Ausbildung zum Erzieher
„Vielleicht sollte ein Politiker mal einen Tag lang allein in einer Gruppe arbeiten“, sagt Ziyansiz. Einen Tag mit einem brechenden, zwei schreienden, drei ungeduldigen, einem eingenässten und 15 weiteren Kindern, „dann würde das Geld von alleine fließen.“ Denn Geld ist eine der Forderungen, die sie an die Politik stellt. Geld für Stromkosten, Fachkräfte und die Ausbildung.
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Denn während die Belastung auf Erzieherinnen und Erzieher steigt, bleibt die Ausbildung weiter unattraktiv. „Eine Erzieherin geht zwei Jahre zur Schule und absolviert zwischendrin immer wieder Praktika. In den zwei Jahren bekommt sie keinen Cent, erst das Anerkennungsjahr wird vergütet“, kritisiert Ziyansiz.
Bei der praxisintegrierten Ausbildung zum Erzieher wolle man es nun anders machen, ab dem ersten Ausbildungsjahr erhalten die angehenden Fachkräfte ein Gehalt. Allerdings sei hier eine Taktung von zwei Tagen die Woche Kita, drei Tagen Schule verbreitet. „So können die Auszubildenden die Entwicklung der Kinder nicht vernünftig begleiten.“
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Die Situation in den Kitas spitzt sich laut Aysel Ziyansiz schon länger zu. Seit den Flüchtlingsbewegungen von 2015 gebe es einen Zuwachs an Kindern mit besonderem Förderungsbedarf. Zum einen kommen sie häufig ohne Sprachkenntnisse an, zum anderen seien viele vom Krieg traumatisiert.
Auch die Eltern und Familien hätten mit Existenzängsten, Behördengängen und ihren eigenen Traumata zu kämpfen. Dann kommen die Kinder zuhause möglicherweise zu kurz und die Fachkräfte im Kindergarten fühlen sich verantwortlich, diesen Mangel aufzufangen.
Drei Personalvoraussetzungen müssen daher an allen Kitas gegeben sein, findet Ziyansiz: eine Alltagshelferin, die bei Aufgaben wie Tisch decken, Veranstaltungen und Bürotätigkeiten unterstützt, eine Sprachfachkraft, die dem Team hilft, die sprachliche Bildung der Kinder zu fördern und eine Pluskita-Kraft, die die Eltern beispielsweise Behördengängen niederschwellig begleitet. Doch in einigen Essener Kitas seien selbst diese Kräfte nicht vorhanden.
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