Essen. Mehrmals im Monat zeigen maskierte Menschen vor dem Limbecker Platz Videos aus Schlachthäusern. Wer dahinter steckt und warum sie das machen.

Eine Kuh, die in eine Ecke gedrängt und mit einem langen Stab besamt wird, Schweine, aus denen das Blut tropft, Küken, die geschreddert werden: Wer freitags zwischen 16.45 und 20.00 Uhr am Limbecker Platz unterwegs ist, hat all das möglicherweise schon gesehen. Dort stehen zu dieser Zeit junge Menschen mit schwarzen Pullovern und weißen Masken. Im „Cube of Truth“, dem „Würfel der Wahrheit“, präsentieren sie Videos aus Schlachthäusern.

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Essener Tierrechtsaktivist: Vom Fleischesser zum Veganer

Thomas Gonzalez ist einer von ihnen. Der 43-Jährige gehört den Tierrechtlern, die sich „Anonymous for the Voiceless“ nennen, seit September 2018 an. Der Prozess ging schnell, vom passionierten Fleischesser am einen, zum veganen Tierrechtler am anderen Tag.

Anonymous for the voiceless
Thomas Gonzalez steht regelmäßig vor dem Limbecker Platz in Essen, um Passanten im „Cube of Truth“ von Veganismus zu überzeugen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

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„Ich habe damals eine Dokumentation über europäische Viehtransporte gesehen“, erinnert sich Gonzalez. Noch am selben Tag habe er beschlossen, fortan keine tierischen Produkte mehr zu essen. Den Veganismus versucht er auf dem Limbecker Platz auch anderen näher zu bringen.

„Was empfinden Sie bei den Bildern?“: Tierrechtsaktivisten befragen Passanten in Essen

Während Gonzalez vor der Kamps Bäckerei am Limbecker Platz 1A steht und erzählt, bleiben mehrere Passanten stehen, um sich die Videos auf den Bildschirmen anzusehen. Eine Aktivistin geht auf einen Mann und seine beiden Kinder zu. „Wir sprechen nur Menschen an, die stehen bleiben“, erklärt Gonzalez.

Für das Gespräch gibt es bei „Anonymous for the Voiceless“ einen Leitfaden, an dem sich die Aktivisten entlanghangeln können. Dann arbeiten sie sich durch folgende Fragen: „Was empfinden Sie bei den Bildern? Konsumieren Sie tierische Produkte? Warum konsumieren Sie tierische Produkte, wenn Sie die Bilder furchtbar finden?“

Häufig komme die Antwort, dass es sich um spezielle Bilder handele und das Fleisch auf dem eigenen Teller aus anderer Haltung stammt. Doch laut Thomas Gonzalez sind die in den Videos gezeigten Haltebedingungen keine Seltenheit. „98 Prozent des Fleischs, das verkauft wird, stammt aus konventioneller Tierhaltung, in der sich solche Szenen abspielen“, sagt er.

Wie verbreitet ist konventionelle Landwirtschaft wirklich?

In der konventionellen Landwirtschaft haben die Tiere meist keinen oder nur begrenzten Zugang zu Außenflächen, teils werden Rinder an ihrem Platz angebunden (Anbindehaltung) und Schweine schlafen auf Betonböden (Vollspaltenboden). Die gemeinnützige Organisation „Animal Society“ geht davon aus, dass 98 Prozent des verkäuflichen Fleischs aus solcher Haltung stammt.

Die Verbraucherzentrale bestätigt, dass Fleisch überwiegend aus konventioneller Landwirtschaft mit gesetzlichen Mindeststandards oder nur geringfügig verbesserten Bedingungen stammt. Fleisch aus einer „deutlich verbesserten Tierhaltung“ sei derweil kaum verfügbar. Auch laut Zahlen des Statistischen Bundesamts dominierte zum Stichtag 1. März 2020 die konventionelle Landwirtschaft. Demnach wurden 83 Prozent der Rinder im Laufstall gehalten, 10 Prozent in Anbindehaltung untergebracht. 67 Prozent der Schweine in Deutschland lebten auf Vollspaltenboden und 66 Prozent der Legehennen in Bodenhaltung.

Seit 2024 ist eine Kennzeichnung der Haltungsform bei Schweinefleisch verpflichtend, bei anderen Fleischsorten erfolgt sie weiterhin freiwillig. Die Produkte werden mit Ziffern von 1 bis 4 gekennzeichnet, wobei 1 für Stallhaltung und somit die gesetzlichen Mindeststandards steht. Die Verbraucherzentrale erachtet die Stufe 2 mit „StallhaltungPlus“ für „geringfügig verbessert“. Erst die Kennzeichnungen 3 und 4 stünden demnach für eine „deutlich verbesserte Tierhaltung“.

Die Aktion „Anonymous for the Voiceless“ wurde 2016 von Paul Bashir und Asal Alamdari in Melbourne, Australien ins Leben gerufen. Den Essener Ableger gibt es seit Januar 2018. Alle 25 Mitglieder bekennen sich zu einer veganen Lebensweise ohne tierische Produkte. Jeden Freitag teilen sie sich auf dem Limbecker Platz in zwei Gruppen: diejenigen mit Maske, die die Bildschirme halten, und die anderen, die ohne Maske auf die Passanten zugehen. Nach einer Weile werden die Rollen getauscht.

Anonymous for the voiceless
Die Essener Lokalgruppe von „Anonymous for the Voiceless“ besteht insgesamt aus rund 25 Mitgliedern. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Tierrechtler am Limbecker Platz: Vegetarischer Lebensstil reiche nicht

Die Masken, hinter denen die Aktivisten ihre Gesichter verstecken, sollen für einen Fokus auf die Bilder sorgen: „Es geht nicht um Einzelpersonen, sondern um die Gesichter der Tiere. Wir wollen ihnen eine Stimme geben“, so Gonzalez. „Tiere sind Individuen wie Menschen, die Leid und Schmerz spüren und Familien haben. Sie sind keine Lebensmittel.“

„Manchmal stelle ich mir vor, dass ich an Stelle der Tiere wäre.“

Mädchen am Limbecker Platz

Daher präge „Anonymous for the Voiceless“ eine abolitionistische Haltung: „Wir wollen die Bedingungen der Ausbeutung von Tieren nicht verbessern, sondern abschaffen“, sagt der 43-Jährige. Diese Haltung trifft nicht bei allen auf Verständnis. Einige Passanten gehen schnellen Schrittes an den Aktivisten vorbei, vermeiden den Blick auf die Bildschirme. Andere reagieren mit einem „Lass noch zu Mc Donalds gehen“. Wer stehen bleibt, blickt häufig bestürzt und betroffen auf die Bilder. Ein junges Mädchen, das eine Aktivistin vor den Bildern abschirmt, sagt: „Manchmal stelle ich mir vor, dass ich an Stelle der Tiere wäre.“

Als eine Passantin an Thomas Gonzalez vorbeigeht, streckt sie beide Daumen in die Höhe. „Ich esse seit drei Jahren kein Fleisch mehr, seit ich euch gesehen hab“, sagt sie mit einem Lächeln. „Eigentlich müsste ich da jetzt nachhaken, warum sie überhaupt noch tierische Produkte isst“, sagt Gonzalez der Redaktion. „Vegetarisch leben reicht nicht.“

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