Essen. Vor 130 Jahren fuhren erstmals Straßenbahnen und verbanden Essen mit den späteren Stadtteilen. Wie die Ruhrbahn das Jubiläum feiern will.
Genau 130 Jahre ist es her, als die erste elektrische Straßenbahn am 23. August 1893 vom Essener Hauptbahnhof nach Altenessen und Borbeck fuhr. Die Ruhrbahn nimmt das Jubiläum zum Anlass, am Sonntag, 27. August, historische Bahnen auf diesen Strecken fahren zu lassen – kostenlos und im Stundentakt sollen Museumsfahrten auf „Essens allerersten Linien“ stattfinden. Der Triebwagen 144 soll zwischen Bahnhof Altenessen und Rathaus fahren, die beiden Triebwagen 1753 und 888 plus Beiwagen 350 auf der langen Strecke zwischen Borbeck, Altendorf, Rathaus und Bredeney, und das jeweils in beide Richtungen.

Der Nahverkehr in Essen ist untrennbar verbunden mit der Gesamtgeschichte der Stadt, teilt ihre Höhen und Tiefen. Der Optimismus und die wirtschaftliche Kraft der späten Kaiserzeit führte in den zwei Jahrzehnten zwischen 1890 und 1910 zu einem Ausbau des Netzes in einem Tempo, das heute schwer vorstellbar ist. Nachzulesen ist das in einem bildstarken Buch, das die damalige Essener Verkehrs-AG (Evag) vor zehn Jahren im Klartext-Verlag herausgab: „Auf Schienen – 120 Jahre Nahverkehr in Essen“. Im Antiquariat ist das empfehlenswerte Buch noch zu haben.
So entstanden jene Strecken, die vielfach noch heute in Betrieb sind, ja mittlerweile werden die altbewährten Trassen teilweise sogar reaktiviert und neu errichtet, nachdem sie über Jahrzehnte stilllagen. Die Bahnhofstangente, für die an der Hollestraße die Bauarbeiten bereits begonnen haben, ist ein schönes Beispiel dafür, dass man Fehler aus der Zeit des U-Bahnbaus auch korrigieren kann. Stadt- und Verkehrsplaner sollten eben in Jahrhunderten denken.
Verspätung führte dazu, dass in Essen gleich die „Elektrische“ zum Einsatz kam

Erste Pläne für eine Straßenbahn in der aufstrebenden Industriestadt Essen wurden schon 1878 geschmiedet, doch dauerte es dann noch 15 Jahre, bis tatsächlich eine Bahn fuhr. Im Nachhinein war die Verspätung so schlecht nicht, denn als Essen mit dem Bau begann, war die „Elektrische“ technisch so weit ausgereift, dass man gleich dieses fortschrittliche System zum Zuge kommen ließ. Zuvor war über eine dampfgetriebene und sogar über eine von Pferden gezogene Bahn debattiert worden, wie sie in anderen Großstädten verkehrten. In Essen konnte man diese Phase überspringen.
Die Straßenbahn konnten sich auch auch weniger betuchte Bürger leisten, Mobilität wurde ein Massenphänomen. Im Gründungsjahr 1893 betrug der Fahrpreis zwischen zehn und 35 Pfennig – je nach Streckenabschnitt. Kinder bis zu sechs Jahren durften „auf dem Schoße“ – wie es in den Tarifbestimmungen hieß – kostenlos mitgenommen werden. 1913 verfügte Essen über 350 Fahrzeuge, bediente ein Streckennetz von 74 Kilometern und man zählte rund 48 Millionen Beförderungsfälle. Zum Vergleich: 1894 verkehrten 24 Triebwagen und 17 Beiwagen im Essener Schienennetz, etwa 3,4 Millionen Menschen waren befördert worden.
Straßenbahnen überquerten schon damals Stadtgrenzen
Es entstand ein strahlenförmiges Netz, das umliegende Gemeinden wie Borbeck, Altenessen oder Rüttenscheid mit der Stadt Essen verband. Diese waren größtenteils noch selbstständig und im Landkreis Essen vereint, der kommunalpolitisch unabhängig von der Stadt Essen war. Die Verbindungen mit Essen als Fixpunkt waren ein starkes Signal in Richtung Eingemeindung. Die Straßenbahn brachte die alte Stadt in der Mitte und ihre späteren Stadtteile buchstäblich einander näher und hat Essens Entwicklung zur Großstadt entscheidend mitgeprägt. Entgegen allem Kirchturmdenken wurden auch die heutigen Stadtgrenzen von der Straßenbahn durchbrochen – bis heute fährt etwa die 107 nach Horst, heute ein Stadtteil von Gelsenkirchen.
Nach stürmischen Beginn ließen der Erste Weltkrieg und die krisenhafte Weimarer Republik viele Nahverkehrspläne in Essen stagnieren, der Zweite Weltkrieg zerstörte dann auch diese Infrastruktur in einem unvorstellbaren Maß. Die wachstumsstarken 1950er Jahre brachten dann eine neue Blüte, die in den späten 1960er Jahren endete, als die damalige Evag immer stärker die Konkurrenz durch das Auto zu spüren bekam, das zum Massenphänomen wurde.

Es begann die Phase der Defizite, die „Mutter“ Stadt ausgleichen musste. Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass der Öffentliche Personennahverkehr kostendeckend anscheinend nicht zu führen ist, obwohl dies über immerhin rund sieben Jahrzehnte durchaus anders war. Aus einem potenziell profitablen Wirtschaftszweig - dem Transport von Menschen von A nach B - wurde jedenfalls die „Daseinsvorsorge“.
Kritiker bemängeln: Abbau der Straßenbahn zementierte Vorherrschaft des Autoverkehrs
Kritiker bemängeln bis heute: Im eher breit als dicht besiedelten Ruhrgebiet habe der nicht zwingend nötige, allerdings immens teure U-Stadtbahnbau der 1970er und 1980er Jahre die Vorherrschaft des Autos zementiert, da die Straßenbahn über weite Strecken die Straße verlassen musste.
Der ursprünglich geplante komplette Ersatz der guten alten Straßenbahn durch U-Bahnen und Busse ließ sich dann weder finanziell noch politisch umsetzen. Das war einerseits gut so, denn die Renaissance der Straßenbahn zeigt die Überlegenheit dieses Verkehrsmittels. Der Strategiewechsel führte allerdings auch dazu, dass im Essener Nahverkehr bis heute ein Sammelsurium verschiedener Systeme nebeneinander existiert, was weder sonderlich komfortabel noch für die Ruhrbahn preiswert ist. Die U-Stadtbahn war im gesamten Ruhrgebiet nicht zu Ende gedacht. Gleichzeitig bindet der Erhalt des längst in die Jahre gekommenen Systems finanzielle Mittel, die für Weiterentwicklungen nicht zur Verfügung stehen.
Verkehrshistorische Arbeitsgemeinschaft bietet Ausstellung
Neben den Sonderfahrten am Sonntag hat die Verkehrshistorische Arbeitsgemeinschaft in ihren historischen Fahrzeugen eine kleine Ausstellung über Essens Nahverkehrsgeschichte vorbereitet, heißt es in einer Mitteilung der Ruhrbahn. Den genauen Fahrplan für Sonntag gibt es online auf auflinie.vhag-evag.de