Essen. Ein Essener Seniorenstift nutzt einen digitalen Sprachassistenten, der Blutdruck und andere Werte aufnimmt. Die Zeitersparnis ist verblüffend.
Marcel Schmidberger ist 23 Jahre alt, Experte für künstliche Intelligenz, macht gerade einen Master und hat ein Programm entwickelt, das dem fast gleichaltrigen Niklas Münstermann das Arbeitsleben erheblich erleichtert: Der 22-Jährige ist Pflegekraft im Seniorenstift St. Laurentius in Essen-Steele – und spart neuerdings eine Menge Zeit bei der Dokumentation. Den Blutdruck von Frau Meier oder die erhöhte Temperatur von Herrn Müller spricht er einfach ins Smartphone.
Bis vor kurzem war das ganz anders: Das Seniorenstift von Träger Contilia hat 104 Bewohner – und weitläufige Gänge. Für jeweils 52 Bewohner sind tagsüber vier Pflegekräfte zuständig, die regelmäßig die langen Flure entlanglaufen mussten, um zum Dienstzimmer zu gelangen, sich dort einzuloggen und zahllose Daten in den Computer einzugeben: zum Beispiel Körpertemperatur, Puls, Insulingabe, Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. „Ich hatte immer einen Notizblock dabei, um alles mitzuschreiben“, erzählt Niklas Münstermann. „Dabei bin ich ja Generation Smartphone.“
Die Start-up-Idee hatte er beim Opa im Pflegeheim
Genau wie Marcel Schmidberger, der durch einen Zufall auf das Thema Pflege stieß: „Immer wenn ich meinen Opa im Pflegeheim besucht habe, fiel mir auf, wie viel Zeit für die Dokumentation drauf ging.“ Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder und einem Kommilitonen begann er vor zwei Jahren mit der Entwicklung eines digitalen Sprachassistenten für die Pflegedokumentation. Vor einem Jahr gründeten sie die Firma „Voize“, die das marktreife System anbietet, das die Contilia nun zunächst in St. Laurentius testet.
Es hat eine Schnittstelle zu dem in der Einrichtung verwendeten Dokumentationsprogramm, kennt alle Formulare und „füllt“ sie quasi aus. Spricht der Pfleger ins Dienst-Smartphone: „Blutdruck 150 zu 95 bei Frau Peters“, macht der Sprachassistent daraus: „Blutdruck: Bewohnerin: Henriette Peters; Systole: 150, Diastole: 95.“
Schmidberger und seine Mitstreiter haben ihr System so trainiert, dass die Eingabe für die Pflegekräfte möglichst einfach ist: „Ein Knopfdruck statt 27 Menüs.“ Auch von Umgebungsgeräuschen lasse sich „Voize“ nicht ablenken. Es habe einen auf die Pflege zugeschnittenen Wortschatz, erkenne auch Dialekte und gebrochenes Deutsch. Und es lernt weiter, indem die Nutzer neue Texte eingeben oder Schmidberger per Chat Änderungswünsche mitteilen. „Bei einer Arztvisite spreche ich die Fachbegriffe schnell ein, dann zeigt mir das System die Eingabe an und ich kann sie korrigieren, falls es doch mal einen Fehler geben sollte“, sagt Niklas Münstermann.
Bewohner können ihre Werte jederzeit einsehen
Der digitale Sprachassistent habe ihn rasch überzeugt, sagt der Leiter des Seniorenstifts, Michael Maßmann: „Das erste Gespräch mit Herrn Schmidberger hatten wir im März, Mitte April sind wir mit dem Pilotprojekt gestartet.“ Die Schulung der Mitarbeiter sei deutlich einfacher gewesen als bei der Einführung der Dokumentation auf dem PC. Mit dem Smartphone hantierten auch ältere Kolleginnen und Kollegen täglich, da sei der Zugang leicht.
Aktionen zum Internationalen Tag der Pflege
Zum Internationalen Tag der Pflege am Mittwoch, 12. Mai, veranstalten verschiedene Essener Träger und Einrichtungen Aktionen mit und für ihre Mitarbeiter. So gibt es bei den diakonischen Altenhilfeträgern eine Foto-Aktion unter dem Motto „Wir für Sie – Pflege jetzt erst recht!“: Dabei geben die Mitarbeiter anhand von Fotos einen Einblick in den vielfältigen Alltag der Evangelischen Altenhilfeeinrichtungen in Essen.
Die Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen Essen (GSE) stellt eine Altenpflegerin mit ungewöhnlichem Werdegang vor: Sabine Stenzel-Peltzer (57) hat Einzelhandelskauffrau gelernt, in der Logistik gearbeitet und nach der Elternzeit festgestellt, dass sie in ihrem alten Beruf den Umgang mit Menschen vermisste. So machte sie eine Ausbildung zur Pflegefachkraft, die sie mit 54 Jahren abschloss. Ihre Arbeit im Pflegezentrum St. Atlfrid bezeichnet sie als Traumberuf. Die GSE hofft, mit ihrem Beispiel andere zu ermutigen, in späteren Lebensjahren in die Altenpflege einzusteigen.
„Außerdem können Bewohner und Angehörige jetzt sämtliche Daten sofort einsehen, weil die Pflegekraft sie ja immer dabei hat“, sagt Pflegedienstleiterin Steffi Foth. Und nicht nur die tagesaktuellen, sondern auch die Vergleichswerte aus den Vortagen, so dass man auffällige Veränderungen immer im Blick hat. Aus Datenschutzgründen seien alle Angaben verschlüsselt auf dem Mobiltelefon abgelegt und für die Pflegekraft nur einsehbar, wenn sie sich im System einloggt.
Eine Stunde Zeit spart der Pfleger – jeden Tag
Das Risiko, dass Daten verloren gehen, sei ohne den Zwischenschritt über den Notizblock natürlich geringer. Überzeugt hat Pfleger Niklas Münstermann vor allem eins: „Ich spare in jedem Dienst eine Stunde Zeit.“ Genug zu tun, habe er zwar immer noch: „Aber die Bewohner haben schon gesagt, es sei schön, dass ich jetzt mehr Zeit mit ihnen verbringe.“
Das würde sich Marcel Schmidberger für seinen Großvater auch wünschen. „Doch sein Pflegeheim verwendet leider ein anderes Dokumentationssystem, das keine Schnittstelle zu Voize hat.“ Da muss das junge Start-up vielleicht noch mal nachlegen.