Essen. Der erste Versuch, Essen zu vernetzen, endete im Fiasko. Die Stadt hat daraus gelernt, schmiedet Pläne mit neuem Partner – und begrenztem Risiko.

Von wegen Datenautobahn: In nicht wenigen Essener Stadtquartieren sind Internet-Nutzer nach wie vor eher auf Feldwegen unterwegs. Das hat spätestens der Corona-„Lockdown“ gezeigt, der quasi über Nacht offenbarte, wie manch einer bei digitalen Angeboten ausgebremst wird: eingefrorene Videokonferenz-Bilder, stockendes Streaming, unterbrochene Leitungen. Was tun? Auf die großen Telekom-Konzerne mag man nicht mehr setzen: „Dauert zu lange“, heißt es. Also will die Stadt selber ran.

Dass Essen mitknüpft am Glasfasernetz der Zukunft, dass die Stadt damit eine entsprechende flächendeckende Infrastruktur auch als Teil der Daseinsvorsorge versteht, werden viele in der Politik begrüßen. Wer schon länger im Rat aktiv ist, bei dem gehen aber wohl unwillkürlich die Warnlampen an.

Unterm Strich war ein zweistelliger Millionenbetrag futsch – ein Debakel

Denn schon einmal hat die Stadt unter dem Namen „essen.net“ an großen Plänen fürs Glasfasernetz mitgestrickt. Binnen fünf Jahren sollten damals 165.000 Essener Haushalte in 18 Stadtteilen angeschlossen sein, und auf geduldigem Papier schossen schon kurz nach dem kostspieligen Start die Erlöse in die Höhe. Leider passierte im wirklichen Leben das ziemliche Gegenteil: Der teure Ausbau stockte, der Partner kapitulierte, die Banken bekamen kalte Füße, und unterm Strich war ein zweistelliger Millionenbetrag futsch. Ein Debakel.

Telekom-Experten als „ruhrfibre“-Partner

Für das „ruhrfibre“-Projekt braucht es nicht nur viel Geld, das von privaten Investoren kommen soll, sondern auch Partner wie etwa qualifizierte Tiefbau-Unternehmen als Partner sowie Internet-Service-Provider, die am Ende das schnelle Internet vermarkten.Expertise ist vorhanden: Beteiligt sind Ex-Deutsche Telekom-Manager Arndt Rautenberg, Ex-T-Online-Vorstand Andreas Kindt und Ex-Versatel-Vorstand Hai Cheng.Refinanziert wird das Investment durch eine Nutzungsgebühr der Betreiber. Der aktuelle Entwurf eines Business-Plans kalkuliert zum Ende des Netzausbaus im Jahre 2026 mit einem Umsatz von rund 20 Millionen Euro.

Vielleicht kam das ehrgeizige Projekt damals zu früh, vielleicht mangelte es an Expertise, aber so oder so, es steigt der Druck einer Bürgerschaft, die einen Stau im Stadtverkehr längst eher verzeiht als einen im Datennetz. Zwar helfen 30 Millionen Euro an Fördergeld, die weißen Flecken im Netz bis 2023 auszumerzen; rund 9800 Privathaushalte und 1600 Unternehmen in klassischen Gewerbegebieten profitieren davon.

In Ranglisten schneidet die Stadt verglichen mit anderen Großstädten erbärmlich ab

Allein: Das langt nicht. In weiten Teilen des Stadtgebiets reicht das Glasfasernetz nur bis zu den über 100 Netz-Knotenpunkten (PoPs) im Stadtgebiet. Auf dem Weg von dort bis zu den Hausanschlüssen aber sind dann meist Coax-Kabel verbaut, bei denen die Datenübertragungs-Kapazität mit dem Grad der Auslastung schwankt. Flächendeckend ist das schnelle Internet in Essen schon gleich gar nicht verfügbar. Was Wunder, dass Wirtschaftsförderer Alarm schlagen: Angesichts des ständig steigenden Datenhungers durch neue Anwendungen droht Essen, digital abgehängt zu werden.

Wie erbärmlich die Lage ist, wird in allerlei Ranglisten bestätigt, egal ob beim Tüv oder beim Branchenverband Bitkom. Bei der Abdeckung des Stadtgebiets mit Glasfaser-Hausanschlüssen etwa (sogenannten FTTB, „Fibre to the building“) landet Essen mit einem Anteil von fünf Prozent unter „ferner liefen“. Der neue Mobilfunk-Standard 5G löst das Problem nicht, denn auch für diesen ist ein engmaschiges Glasfasernetz die Grundlage.

Bei den Dickschiffen der Telekom-Branche registriert man nur „Rosinenpickerei“

Die Lücke liegt bei rund 30 Prozent, seufzt Uwe Breder, Breitbandkoordinator der Stadt Essen, und für die rettenden Investitionen dort sollte nach seiner Überzeugung niemand auf die „üblichen Verdächtigen“, die Dickschiffe der Telekom-Branche, setzen: Die würden – gemessen am Kostenaufwand – nur in besonders dicht besiedelte und deshalb lohnende Stadtquartiere investieren. „Rosinenpickerei“, klagt Breder und ahnt, dass man sich dort ansonsten auf Kosten der Kundschaft mit einer veralteten Netzqualität zufrieden gibt: „Die reiten die Kuh bis zum Ende tot.“

Rettung naht nun womöglich in Gestalt der Strategie- und Finanzberater von Rautenberg & Company, die der Stadt Essen eine andernorts bereits erfolgreich verfolgte Geschäftsidee andienen. Danach soll das bestehende Glasfasernetz in einem wahren Kraftakt bis 2026 flächendeckend ergänzend werden, in Rede steht ein Investitionsvolumen von rund 180 Millionen Euro.

„Ein überschaubares Risiko“, glaubt der städtische Finanzchef Gerhard Grabenkamp

Aufgebracht wird das Geld zum allergrößten Teil von privaten Investoren. Der Stadt Essen bliebe die Rolle als Mitgesellschafter der Netzbesitzfirma, ihr Einsatz läge bei einer überschaubaren Summe von einer Million Euro. Nicht wenig Geld, aber „ein überschaubares Risiko“, glaubt der städtische Finanzchef, Kämmerer Gerhard Grabenkamp, zumal es keine Nachschusspflicht gibt, wohl aber die Möglichkeit, bei Ausbau und Betrieb des Netzes mitreden zu können.

Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört: „Die Investoren müssen mit unseren Governance-Strukturen leben können“, sagt Jochen Sander von der Geschäftsleitung der Essener Versorgungs- und Verkehrs-Holding EVV, der zugleich versichert: Beim Netzbetrieb will die Stadt sich heraushalten.

Sollte der Stadtrat die Pläne gutheißen, werden das „ruhrfibre“-Projekt wie auch alternative Strategien weiter konkretisiert. Zeit vertrödeln mag niemand, im Februar soll die Politik sich entscheiden, im Sommer 2022 könnte der Ausbau starten. Und in welcher Konstellation man dann auch immer loslegt, so Kämmerer Grabenkamp: „Wenn wir das Thema anfassen, sind wir zum Erfolg verdammt.“