Essen/Mülheim. Intime Bilder und laxer Umgang mit Daten sorgen für mehr Fälle von Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch. Die Polizei Essen klärt auf.
Kinder und Jugendliche, die im Internet in die Fänge Pädophiler geraten, sind schnell in größter Not. Die Täter tarnen sich mit harmlos wirkenden Profilen als nette gleichaltrige Mädchen und Jungen. Sie heucheln viel Verständnis und Zuneigung, erschleichen sich geschickt das Vertrauen ihrer Opfer, überreden sie zunächst vorsichtig zu freizügigen Selbstdarstellungen, um am Ende ihr wahres Gesicht zu zeigen.
Wer so ge- wie durchtriebenen Sexualstraftätern auf den Leim geht, wird irgendwann knallhart erpresst - mit der für jungen Menschen maßlos erschreckenden Drohung, die Nacktfotos zu veröffentlichen. Dieser psychische Druck hat nur ein Ziel: Sich mit den Minderjährigen in der realen Welt zu treffen, um sie zu missbrauchen.
Scham und Hilflosigkeit sind der Nährboden, aus dem diese gefühlskalte Kriminalität erwächst: Bei diesem sogenannten „Cybergrooming“ geht es nicht um ein harmloses Kinderspiel, sondern in den allermeisten Fällen „um hochsexualisierte Handlungen“, die bei den Betroffenen ein Leben lang nachwirken können, warnt Kriminalhauptkommissar Bernhard Conrad, Ermittler der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „Herkules“ gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch bei der Polizei Essen: „Kein Täter gibt sich mit Chats und Fotos zufrieden.“
Durchschnittlich vier Stunden täglich stöbert der Nachwuchs im Internet, zu oft ohne zu wissen, welche Gefahren dort lauern können. Doch wer nicht um die Risiken weiß, öffnet seinen Verfolgern unter Umständen Tür und Tor.
Die Schlüssel zu mehr Sicherheit und Sensibilität
Schlüssel zu mehr Sicherheit und Sensibilität beim Surfen soll ein neues Präventionsprojekt bieten, das die Polizei ab sofort allen weiterführenden Schulen in Essen und Mülheim anbietet. „Cyber-Emotions“ will Kinder und Jugendliche durch Informationen stärken, damit sie nicht zu Opfern von Cybergrooming und somit eines sexuellen Missbrauchs werden, sagt die Kriminalhauptkommissarin und Jugendkontaktbeamtin Vanessa Horn.
Die Schülerinnen und Schüler im Alter von elf bis 16 Jahren werden anhand zweier realitätsnaher Hörspiele „Marie“ und „Tom, das Spiel mit dem Feuer“ angehalten, sorgsam mit intimem Bildmaterial umzugehen. Sie erfahren zudem, wer und was sich hinter Cybergrooming oder Sexting, das das Versenden und Empfangen sehr freizügiger Selbstporträts meint, und Sextortion, die Erpressung mit dem zuvor versandten Bild- oder Videomaterial, verbirgt. Oder auch, „wie ein Täter vorgeht in der digitalen Welt“, so Vanessa Horn.
Lehrern wiederum soll das Projekt Hintergrundwissen vermitteln, damit sie ihren Schützlingen zur Seite stehen können. Entwickelt wurde das Ganze von der Polizei Wesel. Die erfolgreich erprobten Inhalte können in die Lehrpläne integriert werden. Jugendkontaktbeamte begleiten die Schulen dabei. Auch Eltern sind gefragt, mit ihren Sprösslingen zu sprechen und sie aufzuklären, um ihnen Angst und Scham zu nehmen. Verdächtige Chatverläufe auf den Smartphones der Kinder sollten durch Erwachsene gesichert und zeitnah Anzeigen bei der Polizei gestellt werden, die dann ermitteln kann.
Die Straftaten gegen Kinder und Jugendliche nehmen erheblich zu
So wie in diesen zwei Essener Fällen: Eine 14-jährige Schülerin wurde von einem Unbekannten über die Plattform „Knuddels“ angesprochen wurde. Im Glauben, mit einem gleichaltrigen Mädchen zu chatten, gab die Jugendliche ihre Handynummer an den Mann weiter , der sie dann über WhatsApp kontaktierte und sich dort mit ihr über sexuelle Praktiken unterhielt und Bilder mit sexuellen Inhalten austauschte.
In einem anderen Fall bot ein Krimineller einer elfjährigen Essenerin über den Chat eines Online-Spiels Bonuspunkte an. Im Gegenzug verlangte er aufreizende Fotos von der Schülerin. Zudem versuchte der Unbekannte, die Adresse des Kindes zu erfragen und animierte es dazu, ihm Kontakte zu weiteren gleichaltrigen Freundinnen zu vermitteln.
„Der sorglose Umgang mit den eigenen Daten sowie das leichtfertige Versenden von intimen Bildern tragen dazu bei, dass die Straftaten aus dem Bereich sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie die Verbreitung pornografischer Inhalte erheblich zunehmen“, heißt es beim Kriminalkommissariat Kriminalprävention/Opferschutz, das inzwischen eng mit der BAO Herkules zusammenarbeitet.
Studien fördern erschreckende Zahlen zutage
Laut Studien der Jugendanstalt für Medien NRW soll bereits ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen im Netz zu Verabredungen aufgefordert worden sein - das sind erschreckende Größenordnungen. Nicht ohne Grund hat die Polizei Essen die BAO Herkules gegründet, in der seit 1. November alle relevanten Kräfte der Behörde gebündelt sind, um Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch von Minderjährigen verstärkt zu bekämpfen - durch Aufklärung und Vorbeugung, aber auch durch konsequente Strafverfolgung.
Über die Hälfte aller im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung richtete sich gegen Kinder und Jugendliche. Wegen des Verdachts des Missbrauchs von Minderjährigen oder der Verbreitung, des Erwerbs, Besitzes und der Herstellung kinder- oder jugendpornografischer Schriften wurde in Essen in 563 Fällen ermittelt. 300 letztlich dann auch verfolgte Straftaten bedeuten eine Verdoppelung binnen eines Jahres.
Die meisten Opfer sind zwischen sechs und 14 Jahre alt
Zig Terrabyte Daten, die sichergestellt worden sind, mussten und müssen Bild für Bild ausgewertet werden. Nicht nur, um die Täter hinter Gitter bringen zu können, auch um Kinder zu retten, die ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert sind, solange die Behörden keinen Fuß in die Tür bekommen. Die Zahl der auf diesem Deliktfeld verfolgten Straftaten ist um 292 auf 563 gestiegen, 264 davon wurden aufgeklärt, was einer Quote von insgesamt über 88 Prozent entspricht.
Etwa dreiviertel der Opfer sind zwischen sechs und 14 Jahre alt, aber es sind auch deutlich jüngere, sogar Säuglinge darunter. Insgesamt hat die BAO Herkules gegen 507 Verdächtige ermittelt. Der Großteil ist zwischen 30 und 40 Jahre alt.
Aber auch der Anteil der 14- bis unter 16-jährigen mutmaßlichen Straftäter ist hoch, wenn auch aus einem anderen Grund: Sie verbreiten Pornos über ihre Smartphones und sind sich in den allermeisten Fällen nicht bewusst, dass sie eine Straftat begehen - weil sie es nicht besser wissen.
Mehr Aufklärung, sie tut offensichtlich not.