Essen. Für Essens SPD hätte es ein Triumph werden können. Doch die Niederlage im Süd-Wahlkreis wird am Wahlabend zum Stimmungstöter.

„Medium oder durch?“ Es soll ein Abend (fast) ganz nach dem Geschmack der SPD werden. Und das nicht nur wegen der saftigen Burger aus „pauls.burgertrack“. Der olivgrüne Imbisswagen ist an der Severinstraße vorgefahren. Hier, im Hinterhof ihrer Parteizentrale, haben Essens Sozialdemokraten zur Wahlparty geladen. Der Pavillon ist mit rot-weißen Ballons geschmückt, der rote Teppich ist ausgerollt. An der Garagenwand hängen Schwarz-Weiß-Fotos von vergangenen Parteigranden: Antje Huber, Helmut Schmidt mit Zigarette und Willy Brandt als Posterboy. Dazwischen Bilder von lokalen Funktionären aus Rat und Partei. Augenzwinkernd lautet die Botschaft: Wir haben heute Abend Großes vor.

Essens SPD-Vorsitzender Frank Müller (vorne links) und Ingo Vogel (Mitte), Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion, beklatschen mit Parteifreunden auf der Wahlparty die ersten Hochrechnungen.
Essens SPD-Vorsitzender Frank Müller (vorne links) und Ingo Vogel (Mitte), Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion, beklatschen mit Parteifreunden auf der Wahlparty die ersten Hochrechnungen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

100 Genossinnen und Genossen, alle geimpft, genesen oder getestet, haben die Einladung in freudiger Erwartung angenommen. Als die 18-Uhr-Prognose der ARD die Sozialdemokraten und die Union mit jeweils 25 Prozent der Stimmen gleichauf sieht, ist die Stimmung ein wenig gedämpft. „25 Prozent – das ist schon mal eine Ansage“, sagt Frank Müller. Für den Landtagsabgeordneten aus Kray ist es der erste Wahlkampf als Essens SPD-Vorsitzender. Nicht nur deshalb ist er gespannt, wie der Abend verläuft. „Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass wir nicht vor der Union liegen“, sagt er. Der Applaus im Hintergrund klingt aufmunternd. Das soll sich wenig später nach der ersten Hochrechnung ändern. Jubel brandet auf, die SPD liegt an der Spitze.

Vor vier Jahren sprach der Trend gegen die SPD, diesmal nicht

„Das ist ein Ergebnis, mit dem man vor vier, fünf Monaten nicht rechnen konnte“, sagt Gereon Wolters. Die SPD sei verlacht worden. „Man hat in Frage gestellt, ob es für eine Partei, die bei 13 Prozent steht, nicht überheblich ist, mit einem Kanzlerkandidaten anzutreten.“ Olaf Scholz hat darauf die Antwort gegeben. Der Wahlkampf des Spitzenkandidaten nötigt Wolters Respekt ab. Wolters hat als Kandidat im Südwahlkreis 160 Termine hinter sich. Die Stimmung auf der Straße habe er vor wenigen Wochen als geradezu euphorisch wahrgenommen. „In den letzten Tagen hat man gemerkt, dass es enger wird.“ An diesem Sonntag ist lange unklar, ob es reichen wird für den 55-jährigen Jura-Professor aus Bochum, der in Essen den zweiten Anlauf für ein Bundestagsmandat nimmt. Vor vier Jahren war das Rennen schnell gelaufen. Der Bundestrend sprach gegen die SPD.

Für SPD-Kandidat Dirk Heidenblut ist es ein „Superabend“

Am Nachmittag hat Wolters seine Mutter in Münster besucht. „Sie möchte, dass es mir gut geht.“ Wie immer die Wahl für ihn persönlich ausgeht. Vieles werde davon abhängen, ob die Grünen der CDU genügend Stimmen wegnehmen“, sagt Wolters. Dann trudeln die ersten Stimmen ein, Wolters liegt vorne, und sein Vorsprung wächst, um auf der Zielgeraden wieder zu schrumpfen...

Dirk Heidenblut könnte den Abend entspannt angehen. Für den Bundestagsabgeordneten aus dem Essener Norden ist es der dritte Bundestagswahlkampf. Auch diesmal ist Heidenblut als Favorit ins Rennen gegangen. Das Fell des Bären will er nicht zu früh verteilen. „Entspannt bin ich erst, wenn das Ergebnis feststeht.“ Als es feststeht, ist es für Heidenblut einfach nur ein „Superabend“.

Der dritte Kandidat im Bunde, Sebastian Fiedler, verfolgt das Rennen in Mülheim. Schnell zeichnet sich ab: Der 48-jährige Polizeigewerkschafter zieht als gewählter Kandidat im Wahlkreis 118 für die Nachbarstadt und den Essener Nordwesten in den Bundestag ein. „Der Wahlkampf hat sich ausgezahlt“, sagt Fiedler am Telefon. Nun gehe er davon aus, dass Olaf Scholz den Auftrag zur Bildung einer Regierung erhält.

Freude ja, aber Euphorie will bei der Essener SPD nicht aufkommen

Holt die SPD sogar alle drei Wahlkreise? Kurz vor der Ziellinie liegt Gereon Wolters im Südwahlkreis nur noch auf dem zweiten Platz. Die Auszählung wird zur Zitterpartie. Dennoch ist es ein großer Abend für die Sozialdemokratie. Die Freude ist groß, aber von Euphorie keine Spur. Parteichef Frank Müller führt es auch auf den langen, kräftezehrenden Wahlkampf zurück. Schwerer wiegt seiner Ansicht nach, dass nicht feststeht, welche Parteien die kommende Regierung bilden werden. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gereon Wolters und Matthias Hauer von der CDU tut ein Übriges. „Natürlich freue ich mich“, sagt Müller. Seine Pulsuhr zeigt einen Pulsschlag von 120. Da wird im Südwahlkreis noch ausgezählt...

Auf der Zielgeraden liegt Gereon Wolters (2.v.l.) im Südwahlkreis hinten.
Auf der Zielgeraden liegt Gereon Wolters (2.v.l.) im Südwahlkreis hinten. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Am Ende soll es für Gereon Wolters doch nicht reichen. Zwei Stimmbezirke von 2021 sind noch offen, als Frank Müller das Wort ergreift. Wolters liegt zu diesem Zeitpunkt rund 900 Stimmen hinten. Müller spricht von einer „Achterbahnfahrt der Gefühle“ und von „einem lachenden und einem weinenden Auge“, mit dem diese Wahl für die Essener SPD zu Ende geht. Was man halt so sagt. Seine Gratulation gilt Dirk Heidenblut, sein Dank Gereon Wolters für dessen Einsatz. Bevor die Stimmung kippt, ruft Müller: „Wir haben die Bundestagswahl gewonnen.“

Die Essener SPD will den Schwung in die Landtagswahl mitnehmen

Heidenblut bedankt sich. Wolters ist anzusehen, dass er genickt ist. „Natürlich bin ich enttäuscht“, räumt der unterlegene Kandidat ein. Um anzufügen, wie begeistert er sei über die vergangenen sechs Monate, in denen die SPD wieder auferstanden ist wie Phönix aus der Asche. Wolters hat seinen Teil dazu beigetragen. Als Sieger fühlen darf er sich nicht.

Nur wenige blicken an diesem Wahlabend bereits nach vorne wie Bürgermeister Rudi Jelinek, für den es in seinen 42 Jahren als SPD-Mitglied die spannendste Wahl von allen war, wie er selbst sagt: „Es ist nicht mehr lange bis zur Landtagswahl. Den Schwung müssen wir mitnehmen. Parteichef Frank Müller soll in diesen Tenor einstimmen, als die Wahlparty zu Ende geht.

„Respekt“ hatte die SPD unter dem Konterfei von Scholz plakatiert. „Stolz“ wäre der passende Slogan für diesen Abend. Diese Wahl ist für Essens Sozialdemokraten nach vielen Enttäuschungen auch eine Selbstvergewisserung: Die SPD ist wieder da.