Essen.. Die Extraschicht in Essen hat auch bei miesem Wetter noch Anziehungskraft. Neben dem pompösen Programm auf Zollverein bietet die Zeche Carl künstlerischen Freigeist. Seiltänzer, Einradfahrer und Akrobaten sorgen für Abwechslung
Am Ende war die Stimmung weit besser als die Wetteraussichten: Denn wer den Kopf am Samstagabend in den Nacken legte, der bekam nicht nur graue Regenwolken und den Regenschirm des Vordermannes zu sehen, sondern auch anmutige Seiltänzerinnen, tollkühne Einradfahrer und natürlich die eindrucksvolle Architektur des Welterbes Zollverein. 18.000 Besucher trotzten allein dort dem schlechten Wetter und kamen zur 14. Extraschicht auf die Welterbe-Zeche. Im ganzen Ruhrgebiet waren es rund 150.000 wetterfeste Industriekultur-Fans. Nicht alle hatten so viel Glück wie die Zollvereiner, die viele Open-Air-Programmpunkte kurzerhand zu Indoor-Ereignissen machten.
Auch die Zeche Carl hatte sich gewappnet, dort erlaubten Schauspielstudent Michael Zier und seine Kollegin Clara Gohmert einen Blick in die Kristallkugel. Um zur locker-lustigen Atmosphäre des Künstler-Jahrmarkts zu passen, waren die beiden aber von ihrem ursprünglichen Plan, als Wahrsager aufzutreten, abgewichen. „Die Leute haben uns zu ernst genommen, die Begegnungen wurden zu intim.“ Aus den Wahrsagern wurden kurzerhand „Gurus“, die schon mal einen Ausblick auf den nächsten 5-Euro-Lottogewinn wagten. Als Wetterfrösche hätten sie an diesem Abend auch nicht schlecht abgeschnitten.
Bläserkonzert im Nieselregen
So spontan die Rolle zu wechseln, verlangt nach Improvisationstalent, nach künstlerischem Freigeist. Und der war auf der Zeche Carl in diesem Jahr ganz besonders zu spüren: Straßenmusiker geben wie aus dem Nichts ein Bläserkonzert im Nieselregen, maskierte Schauspieler mit überproportionalen Nasen bitten Besucher zum spontanen Walzer, zwischen den Jahrmarktständen gibt eine Luftakrobatin Kunst am Vertikaltuch zum Besten. Kurz: Das Überraschungselement lebt auf Carl.
Und auch wenn die Zeche Carl gegenüber dem pompösen Programm auf dem gigantischen Zollverein-Gelände stets wie der Underdog der Essener „Extraschicht“ wirkt, waren auch Besucher von auswärts angetan von dem Programm in Altenessen, sogar von sehr weit auswärts: Daniel Irizarry, gebürtig aus Puerto Rico, sesshaft in New York und selbst Schauspieler und Regisseur, hat sich nicht nur von den schaurig-obskuren Masken der umherziehenden Künstler inspirieren lassen, die stark an das prominente Folkwang-Kollektiv „Familie Flöz“ erinnern.
Energie ist spürbar
Sondern er hat sich auch gleich in die ruinenhafte Ästhetik des Maschinenhauses verliebt. „Man kann die Energie hier drinnen spüren“, schwärmt Irizarry. Alte Industrieanlagen zu Künstler-Landschaften transformieren, ist das Motto der „Extraschicht“. Und das Maschinenhaus der Zeche Carl ist, findet Irizarry, ist ein ganz besonders schönes Beispiel dafür.
Aber Zollverein ist und bleibt natürlich das prominenteste Beispiel für den Wandel der Ruhr-Region. Für viele war das Weltkulturerbe selbstverständlich Pflicht-Station – aber nicht unbedingt nur wegen der großen Programmpunkte wie den modernen Familienzirkus „Circo Black and White“ oder den Einrad-Akrobaten Mister M.: Hobby-Botanikerin Petra Schmidt aus Karnap etwa hat das Gelände extra für den kleinen Färbergarten aufgesucht, bei dem gelehrt wurde, wie man aus Rotkohl Farbe gewinnt. „Schön, dass auch so spezifische Interessen beim Programm bedient werden.“