Essen. Im Herbst 2015 klingelt es bei Beate Tatzky an der Tür: Ein junger Flüchtling aus Syrien bittet sie um Hilfe: Heute gehört er zu ihrer Familie.

Gut fünf Jahre ist es her, dass das Schicksal zwei Menschen zusammenführte, die nichts miteinander gemein hatten, nicht einmal dieselbe Sprache: Beate Tatzky, die als Medizinische Fachangestellte in einer Essener Arztpraxis arbeitet, und den jungen Khalouf Alobeido, der aus Syrien geflohen war. An einem Herbstabend im Jahr 2015 klopfte er an ihre Tür, und sie öffnete dem Fremden, der in der Dunkelheit stand. Heute nennt er sie Mama, und sie spricht von ihrem Pflegesohn.

Mit brennendem Ehrgeiz und großen Erwartungen war der damals Anfang 20-Jährige im September 2015 nach Deutschland gekommen, und schon wenige Wochen nach der Ankunft enttäuscht. Da hatte er Asylunterkünfte in Frankfurt und Dortmund kennengelernt, war schließlich im Oktober einem Heim in Mülheim zugewiesen worden. „Das einzige, was wir da machen konnten, war essen, schlafen und warten.“ Es war das Jahr, in dem 800.000 Menschen nach Deutschland kamen und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einen permanenten Überforderungszustand katapultierten.

Er klopfte an der Tür und fragte: Können Sie mir Deutsch beibringen?

Für Khalouf Alobeido hieß das: Ohne Anerkennung kein Integrationskurs, kein Deutschlernen. Zähe Tage, wenig Willkommenskultur. Ab und zu sei er mit einem Kumpel in die Innenstadt gefahren: „Wir konnten uns etwas auf Englisch verständigen.“ Wenn sie jemanden trafen, der das verstehen konnte oder wollte. Viele wollten nicht. „An einem Abend habe ich zu meinem Freund gesagt: ,Ich klopfe jetzt an eine Tür und frage, ob mir jemand Deutsch beibringt.’“ Er wählte die Tür von Beate Tatzky, die in Mülheim-Heißen wohnt.

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Er hatte sie in der Küche stehen sehen, und sagte sich: „Das Schlimmste, was sie tun kann, ist die Polizei holen.“ Beate Tatzky öffnete. Gemeinsam mit einer Nachbarin hörte sie sich Alobeidos Bitte an, notierte seine Telefonnummer, sie melde sich. „Er hat mich richtig angerührt“, erinnert sich die heute 62-Jährige. „Er erzählte, dass er schon Leute auf der Straße angesprochen habe, aber die hätten ihn angefeindet. Ich fand es sehr mutig, dass er bei mir klingelte.“

„Papa Max ist mit mir zu allen Ämtern gegangen“

Später habe sie mit ihrem Mann besprochen, ob sie dem jungen Syrer helfen könne. „Er sagte: ,Wenn Du Dir das zutraust mach’ das.’“ Zwei Tage später rief sie Khalouf Alobeido an, er könne am Nachmittag kommen. „Das Wichtigste hier ist Pünktlichkeit, also war ich früher da“, erzählt er. „Wir haben Englisch geredet“, sagt sie. „Aber sie hatte schon ein Buch ,Deutsch in 30 Tagen’“, sagt er. „Ich wusste ja auch nicht, wie das geht: Deutsch beibringen.“

Aber sie brachte sich das Deutschbringen bei, gab ihrem Schüler Hausaufgaben auf. Als er ihr sagte, dass er mit 30 Menschen in einem Raum keine Aufgaben machen könne, bot sie ihm das frühere Kinderzimmer zum Lernen an. Und als er Anfang 2016 endlich die Anhörung beim BAMF hatte, fuhr Tatzkys Mann mit. „Papa Max ist mit zu allen Ämtern gegangen.“ Keine zwei Wochen später bekam Alobeido einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Er durfte nun einen Integrationskurs besuchen, in eine eigene Wohnung ziehen.

Sie sind sich einig: Ihre Begegnung war Schicksal

Er bat Beate Tatzky und ihren Mann, ihm bei der Wohnungssuche zu helfen. Sie boten ihm an, zu ihnen zu ziehen. In das frühere Kinderzimmer ihres Sohnes, der nur Wochen zuvor an einer schweren Krankheit gestorben war, 22 Jahre alt. „Ich sage immer, mein Sohn hat Khalouf geschickt. Er sagt: Allah hat mich geschickt.“ Beide sind sich in einem einig: „Es war Schicksal.“

Vier Jahre sollte Khalouf Alobeido bei dem Ehepaar wohnen, von Anfang an nannte er sie Mama und Papa. Erst war das ein Zeichen des Respekts, den Älteren gegenüber; inzwischen empfinden sich alle drei tatsächlich als Familie. Beate Tatzky und ihr Mann begleiteten Khalouf Alobeido, der in Syrien BWL studiert hatte, durch Integrations- und Deutschkurse. „Irgendwann haben wir gesagt: ,Jetzt ist Feierabend mit Englisch, wir sprechen nur noch Deutsch’“, sagt Beate Tatzky.

„Köln war für uns eine Katastrophe“

Heute spricht Khalouf Alobeido so flüssig wie rasant, die verschiedenen Zertifikate hat er nacheinander erworben. Zur C1-Prüfung – für das zweithöchste Level – geht er Anfang 2019 spontan, weil er das Zertifikat braucht, um endlich den unbefristeten Aufenthalt in Deutschland zu bekommen. Man braucht da tiefergehende Sprachkenntnisse, muss literarische Texte verstehen und „ausgefallene Phrasen“ beherrschen. Klar, besteht er die Prüfung, bekommt bald auch den Aufenthaltstitel.

Er lernt nun das Deutschland kennen, wie er es sich in Syrien vorgestellt hat: das Land von Technik und Tüftlern, die stolze Industrienation. Er macht Praktika, beginnt 2018 eine Ausbildung bei Siemens in Mülheim, wird Industriekaufmann, bekommt einen Arbeitsvertrag für zwei Jahre. Die Berufsschule sei anstrengend gewesen, aber er sei immer motiviert gewesen: „Leistung wurde bei Siemens immer anerkannt, ich habe da nur gute Erfahrungen gemacht.“

Schlechte Erfahrungen machte er außerhalb von Heim und Betrieb, wenn er etwa mit anderen Syrern ausgeht. Nach der Silvesternacht 2015/16, in der am Kölner Hauptbahnhof zahlreiche Frauen von zugewanderten jungen Männern sexuell belästigt wurden, hätten er und seine Freunde stets unter Generalverdacht gestanden: „Köln war für uns eine Katastrophe.“

Seine Pflegefamilie zeigte ihm das freundliche Gesicht des Landes

Seine „Pflegefamilie“ war das andere Gesicht des Landes: Sie gingen Eis essen, fuhren zum Schwimmen, grillten mit Freunden im Garten. Manche Bekannte hätten das Familienexperiment mit Zurückhaltung beobachtet, sagt Beate Tatzky, andere hätten bald gemerkt: „Die mögen, die lieben sich.“ Seit Herbst 2019 teilt sich der heute 26-Jährige Alobeido mit einem jüngeren Bruder Arrak (20) eine Wohnung, zwei seiner Schwestern leben nun ebenfalls in Mülheim. Seine Familie, seine Heimat ist zu ihm gekommen.

Doch Mama und Papa aus Heißen sind ihm weiter nah. Wer ihm und Beate Tatzky begegnet, bemerkt den vertrauten, humorvollen Umgang der beiden. Da erzählt sie etwa, wie schwierig er anfangs mit dem Essen gewesen sei. Das habe sich geändert, lacht er: „Jetzt ist Spaghetti Bolognese mein deutsches Lieblingsessen.“

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