Essen. Essens Kinderärzte wollen einen raschen Start der Impfaktion für Jugendliche, um ihnen ein normales Leben zurückzugeben. Ihre Lage sei dramatisch
Die Essener Kinderärzte fordern einen raschen Start der Impf-Aktion für Teenager. „Wir sind bereit und durch unsere große Impf-Erfahrung auch fähig, schnell größere Gruppen zu impfen“, heißt es in einem Schreiben, das der Obmann der Essener Kinder- und Jugendärzte, Ludwig Kleine-Seuken, gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen verfasst hat. Es sei frustrierend, dass sie bislang nur geringe Mengen an Impfstoff erhalten. Denn: „Es ist allerhöchste Zeit, dass wir den Kindern und Jugendlichen wieder ein normales Leben ermöglichen.“ Dazu könne die Impfung beitragen.
Zwölf Impfdosen für eine Woche
Doch während bundesweit über eine Impfung von Kindern ab zwölf Jahren diskutiert wird, könne man aktuell nicht einmal alle Jugendlichen ab 16 impfen – obwohl der Impfstoff für sie freigegeben ist. „Wir sind da an die Priorisierung gebunden und dürfen lediglich chronisch kranke Jugendliche in diesem Alter impfen“, erklärt Kleine-Seuken. Die Kinderärzte fordern daher eine zuverlässige Bereitstellung von größeren Impfstoffmengen und die Aufgabe der Priorisierung, „so dass im ersten Schritt alle Jugendliche ab 16 eine Impfung erhalten können“. Das Interesse bei den Familien sei groß: „Viele Eltern rufen hier an und fragen, wann sie mit ihren Kindern kommen können.“ Die meisten muss er enttäuschen: Zwölf Biontech-Dosen hat er in dieser Woche erhalten.
Dabei trauten sich die Kinder- und Jugendärzte in Essen wöchentlich jeweils mindestens 50 Impfungen zu: Das wären bei 40 Praxen 2000 Impfungen pro Woche. „Wir würden alles in unserer Macht stehende tun, um den Kindern wieder etwas Normalität zu ermöglichen.“
Denn was sie zur Zeit erlebten, sei leider alles andere als normal: „Kaum ein Kind hat mehr Normalgewicht, eine Zunahme von sechs bis acht Kilo in einem halben Jahr ist bei Schulkindern die Regel – nicht die Ausnahme.“ Bei einigen jungen Diabetikern seien die Zuckerwerte so außer Kontrolle geraten, dass sie als Fälle von Kindeswohlgefährdung gemeldet werden müssen.
Kinder zocken sechs bis acht Stunden am Tag
Regelmäßig bitten Kitas und Schulen bei den Kinderärzten um Ergo- und Logopädie für ihre Schützlinge. Vielen fehle die Konzentration; andere hätten große Sprachdefizite. Jungen reagierten häufig mit exzessivem Zocken von sechs bis acht Stunden am Tag auf die Situation, Mädchen seien oft depressiv, einige sogar suizidal. Die Familien beklagten den Wegfall von Schul- und Vereinssport und nähmen jedes Angebot dankbar an: „Eine Krankengymnastin erzählte mir, dass kein Termin mehr abgesagt werde: Das sei für die Kinder das Highlight der Woche.“
Die wenigsten Grundschüler könnten schwimmen, vielen falle schon Balancieren und Ballfangen schwer. Die natürliche Leistungsbereitschaft der Kinder sei einer Lustorientierung gewichten, wie sich bei einfachen Aufgaben in der Praxis zeige: „Sie geben schnell auf, wenn sie auf einer Linie gehen oder auf einem Bein hüpfen sollen. Beim Sehtest versuchen sie erst gar nicht, die kleinen Buchstaben zu lesen.“
Ärzte fordern Öffnung aller Sportstätten
Nachdem die Kinderärzte im Februar einen Brandbrief veröffentlicht hatten, habe es ein erstes Gespräch mit der Stadt gegeben; sichtbare Konsequenzen vermisse er, sagt Kleine-Seuken. Die Ärzte haben konkrete Forderungen: „Die Sprachförderung in Kitas und Schulen muss erweitert werden. Wir brauchen die Öffnung aller Sportstätten, ein intensiveres Vereinsangebot, Sommerferienprogramme.“ Dass zu Christi Himmelfahrt und an Pfingstmontag die städtischen Sportplätze schließen, sei „genau das falsche Signal“.
Jugendamtsleiter Carsten Bluhm, der seit April im Amt ist, erklärt dazu, dass man im ersten Pandemie-Jahr alle Kraft darauf verwendet habe, möglichst viele Angebote für Kinder aufrecht zu erhalten. „Seit einigen Wochen arbeiten wir an einer Post-Corona-Strategie, mit der wir entstandene Defizite auffangen wollen.“ So sollen etwa neue Sprachfördergruppen für 300 Kinder geschaffen werden.
Geht es nach Kleine-Seuken und seinen Kollegen müsste sofort etwas getan werden, um die Stimmung der Kinder aufzuhellen: „Wir brauchen Theater, Shows oder Zauberer – leider fehlt vielen Kindern im Moment ein Grund zum Lachen.“