Essen. Eine Tochter bringt ihre Mutter in die Ambulanz und erlebt, wie sich die Aufnahme der leidenden Frau hinzieht. Das liegt auch am Corona-Schutz.

Die letzten Stunden im Leben ihrer Mutter wird Jana Stempniak nie vergessen: leidend, hilflos, im Stich gelassen, habe sie die 54-Jährige erleben müssen. Auf Hilfe hoffend, hatte sie ihre krebskranke Mutter in die Uniklinik Essen gebracht, doch die Aufnahme sei katastrophal verlaufen. Während Stempniak „unmenschliches Verhalten“ beklagt, spricht die Klinik vom „schicksalhaften Verlauf in dieser Nacht“, den man außerordentlich bedauere.

Der Notarzt rät der Familie, sofort in die behandelnde Klinik zu fahren

Als Heike Stempniak am 31. Januar 2021 zur Uniklinik gebracht wird, hat sie schon eine kurze, aber sehr heftige Leidensgeschichte hinter sich: Am 5. Januar erhielt sie – wie aus dem Nichts – eine erschütternde Krebsdiagnose; mehrere Organe sind betroffen. Sie wird im Uniklinikum behandelt und Ende Januar für eine knappe Woche nach Hause entlassen. Anfang Februar soll sie zu einer Chemotherapie zurück in die Uniklinik, ins Westdeutsche Tumorzentrum (WTZ).

Die Notaufnahme Süd der Uniklinik Essen ist für unfallchirurgische Fälle zuständig. Es gibt auf dem Klinikgelände, etwa einen halben Kilometer entfernt, eine zweite Notaufnahme (Nord), die für internistische Fälle zuständig ist.
Die Notaufnahme Süd der Uniklinik Essen ist für unfallchirurgische Fälle zuständig. Es gibt auf dem Klinikgelände, etwa einen halben Kilometer entfernt, eine zweite Notaufnahme (Nord), die für internistische Fälle zuständig ist. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

In der kurzen Zeit zu Hause verschlimmert sich ihr Zustand so sehr, dass Jana Stempniak sich fragt, wieso man sie überhaupt entlassen hat. „An ihrem rechten Bein hatte sich ein großer Bluterguss gebildet, der immer größer wurde, sich rot verfärbte und höllische Schmerzen verursachte.“ Schließlich ruft die Tochter den Notarzt, der aber stellt keine Diagnose. Er rät der Tochter, ihre Mutter lieber gleich in die behandelnde Klinik zu bringen. Also fahren Jana Stempniak und ihr Vater die Mutter am 31. Januar, einem Sonntag, vom heimischen Mülheim zur Uniklinik Essen, in die unfallchirurgische Notaufnahme Süd.

Es gibt in der Uniklinik eine zweite Zentrale Notaufnahme – Nord. Sie ist für internistische Fälle und Krebspatienten die richtige Adresse. Doch Jana Stempniak kennt nur die eine: Süd. Als die Familie dort eintrifft, ist es 22 Uhr, ihrer Mutter geht es sehr schlecht. Stempniak bittet in der Ambulanz um einen Rollstuhl. Der Empfang sei abweisend gewesen; die diensthabende Ärztin habe genervt gewirkt, sei unwillig mit zum Auto gegangen.

Die Ärztin möchte der Patientin rasch helfen

Die Ärztin hat die Situation völlig anders erlebt: „Wir waren eigentlich die falsche Anlaufstelle, ich hätte die Familie zur Notaufnahme Nord schicken müssen. Das wollte ich ihnen aber nicht zumuten.“ Darum habe sie kurz gezögert und dann beschlossen, den Fall selbst abzuklären. Sie habe gehofft, dass die durch sie aufgenommene Patientin so rascher ins Tumorzentrum gelange. Also habe sie am Auto kurz mit Heike Stempniak gesprochen und sie dann im Rollstuhl in die Behandlungskabine bringen lassen – allein.

Coronabedingt dürften nur Kinder, betreute Personen und Sterbenskranke in Begleitung in die Kabine, sagt die Ärztin. „Meine Mutter war aber gar nicht mehr aufnahmefähig“, erwidert Jana Stempniak, die mit dem Vater draußen warten musste. Auch nach der Untersuchung habe die Ärztin sie nicht informiert, „um den weiteren Verlauf zu erläutern“.

Coronabedingt muss die Untersuchung ohne eine Begleitung erfolgen

Es ist in der Tat schwer zu verstehen, wieso das nicht geschah, zumal die Ärztin selbst sagt: „Die Patientin war schwer krank, in einem fortgeschrittenen Stadium.“ Das habe der Arztbrief bestätigt, den sie abgegeben hatte: „Es war mit dem baldigen Ableben in Wochen, höchstens Monaten zu rechnen.“ Hätte man sie also nicht doch als sterbenskrank ansehen, Mann oder Tochter mit in die Behandlungskabine bitten sollen?

Es stimme, dass sie nicht mit den Angehörigen gesprochen habe, sagt die Ärztin. Die Patientin habe ja selbst erklärt, was ihr fehle, sei „voll orientiert und eigenständig auskunftsfähig“ gewesen. Sie habe erzählt, wie verzweifelt sie über ihre Diagnose sei. „Ich habe sie beruhigt, dass die Kollegen in der Onkologie sich gut um sie kümmern werden.“ Damit sie dort schnell aufgenommen werde, habe sie die Kollegen angerufen. Heike Stempniak habe sie ein Bett angeboten, doch die habe das zweimal abgelehnt.

So kehrt die Patientin im Rollstuhl in den Warteraum zurück, wo die Familie nun ratlos ausharrt. Jana Stempniak meint, die Ärztin sei sich zu schade gewesen, sie zu informieren. Die entgegnet, sie habe der Patientin angeboten, mit der Tochter zu reden: „Das hat sie verneint.“

Aus Corona-Schutz-Gründen kann die leidende Patientin nicht direkt auf die Station

Sie hätte die Frau gern sofort ins WTZ überstellt, doch das nimmt aus Sorge vor Corona derzeit keine Patienten direkt auf: Die Eingangsuntersuchung muss in der Notaufnahme Nord erfolgen. Dahin sollte die Patientin eilig gebracht werden. „Das hat uns eine Krankenschwester mitgeteilt“, erinnert sich Jana Stempniak.

Doch nun vergeht fast eine Stunde: nichts passiert, niemand spricht mit ihnen. Dann habe ihre Mutter mit gebrochener Stimme gesagt: „Ich kann nicht mehr.“ Verzweifelt macht sich die Familie allein auf den Weg, der mit dem Rollstuhl schwer passierbar gewesen sei. Im Dunkeln holpern sie über Bordsteine, gelangen schließlich in die etwa einen halben Kilometer entfernte Notaufnahme Nord. Hier sei ihre Mutter endlich aufgenommen worden. „Zehn Stunden später ist sie in der Klinik gestorben“, erzählt Jana Stempniak. Noch immer hat sie den Schock nicht überwunden. Zumal ihr bis dahin nicht klar gewesen sei, dass ihre Mutter unheilbar erkrankt war und nur noch kurze Zeit zu leben hatte.

Der interne Krankentransport auf dem Klinikgelände dauert oft lang

Zu dem letzten Abend der Patientin sagt die Notärztin, der krankenhaus-interne Transport der leidenden Frau habe sich wegen zweier akuter Notfälle leider verzögert. Sie habe davon selbst erst erfahren, als eine Beschwerde-Mail von Jana Stempniak die Uniklinik erreichte. „Die Transportzeiten sind teils eine echte Katastrophe“, räumt die Ärztin ein. „Aber Notfallpatienten, die zum Beispiel beatmet werden müssen, gehen immer vor.“

Der Vorwurf, sie habe die Familie nicht ernst genommen, sei falsch und bedrücke sie. Aber: Künftig werde sie so schwer kranken Patienten noch nachdrücklicher ein Bett anbieten und lieber einmal mehr auf die Angehörigen zugehen. Sie könne nachfühlen, wie groß der Schmerz der Familie sei, die kaum einen Monat nach der Krebsdiagnose Mutter und Ehefrau verloren habe. Nach einem Monat und einer schlimmen Nacht, sagt Jana Stempniak. „Ich bin so traurig, dass meine Mutter und wir das erleben mussten.“

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Oberärztin Anja Welt vom Westdeutschen Tumorzentrum an der Uniklinik hat in 25 Jahren viele Patienten mit schweren Krebserkrankungen gesehen, das Krankheitsbild von Heike Stempniak nennt sie „dramatisch“. Der Krebs sei weit fortgeschritten gewesen, als sie Anfang Januar erstmals eingeliefert wurde. Neben zahlreichen Knochen-Metastasen, seien auch Leber und Nieren betroffen gewesen. „Die Blutwerte zeigten, dass der Tumor schnell wachsend war. Der Patientin ging es sehr schlecht.“

Ohne den Befund vom Pathologen abzuwarten, habe man Heike Stempniak daher sofort eine Chemotherapie angeboten und anfangs den Eindruck gehabt, dass sie darauf ansprach. „Es ging darum, die Erkrankung zurückzudrängen und die Lebenszeit zu verlängern. Eine Heilungsaussicht war damit nicht verbunden.“ Das habe man Heike Stempniak auch gesagt. Sie sei bei klarem Bewusstsein gewesen; eine sehr nette und sehr ängstliche Frau: „Wenn man nur andeutete, dass ihre Krankheit tödlich sein könnte, brach sie zusammen.“

Zeit und Lebensqualität gewinnen

Es sei eine Gratwanderung, Patienten mit diesen Diagnosen aufzuklären. So dächten viele, palliative Chemotherapie heiße: „Jetzt sterbe ich.“ Dabei könne man zwar nicht heilen, aber Zeit und Lebensqualität gewinnen. Bei Krankheitsbildern wie dem von Heike Stempniak gehe es nicht um Jahre: „Da geht es oft nur um Wochen bis Monate, falls eine Behandlung nicht zu einer sofortigen Tumorkontrolle führt.“

Der Familie sei das nicht bewusst gewesen, sagt Tochter Jana Stemp­niak. Immer wieder habe sie in der Klinik angerufen, um Ärzte zu sprechen. Nur einmal habe eine Assistenzärztin gesagt, die Chemo schlage offenbar an. Ohne Einwilligung der Patientin dürfe sie nicht einmal Tochter und Ehemann Auskunft geben, erklärt Anja Welt dazu. Coronabedingt habe die Familie leider auch nicht zu Besuch kommen dürfen. Hätte Heike Stempniak sie darum gebeten, hätte sie die Familie sofort angerufen.

So sei die Patientin auf eigenen Wunsch für eine gute Woche entlassen worden, bevor die zweite Chemo beginnen sollte. Ihr sei vermittelt worden, ihre Mutter sei auf gutem Weg, sagt Jana Stempniak. Stattdessen habe diese zu Hause rasant abgebaut, bis sie verzweifelt mit ihr in die Notaufnahme fuhr.

Den Angehörigen sei womöglich nicht klar gewesen, wie ernst es stand, räumt Anja Welt ein. Sie habe versucht, ihrer Patientin die Lage behutsam zu vermitteln – und ihr Hoffnung zu geben. Heike Stempniak habe sich auf ihr Zuhause, ihre Familie und den Hund gefreut, so etwas stütze. „Man möchte niemanden belügen – aber eine Perspektive bieten.“