Essen. NRW verzeichnet 2021 eine Rekordzahl an Kirchenaustritten - und es dürften noch weit mehr werden. Termine in Essen sind bis März ausgebucht.

 In Nordrhein-Westfalen sind im vergangenen Jahr 155.322 Menschen aus der Kirche ausgetreten. Das sind so viele wie noch nie in der bis 2011 zurückreichenden Statistik des Justizministeriums in Düsseldorf. Der bisherige Höchstwert dort waren 120.188 Austritte im Jahr 2019 gewesen. Im Jahr darauf, 2020, waren es 89.694, was im Allgemeinen mit der Corona-Pandemie erklärt wurde. Es dauerte zum Beispiel einige Zeit, bis die Amtsgerichte etwa die Möglichkeiten für Online-Austritte ausgebaut hatten.

Aus den Zahlen lässt sich nicht ablesen, wie sich die Austritte nach Konfessionen aufschlüsseln. Das vergangene Jahr war aber vor allem für die katholische Kirche in Deutschland eine Krisenzeit. So schnellten im größten deutschen Bistum, dem Erzbistum Köln, die Austrittszahlen in die Höhe, nachdem sich Kardinal Rainer Maria Woelki entschieden hatte, ein Gutachten zum Umgang von Bistumsverantwortlichen mit Missbrauchsvorwürfen aus rechtlichen Gründen zurückzuhalten.

Der katholische Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster sagte der Deutschen Presse-Agentur, es sei derzeit nicht zu erkennen, wie die Talfahrt noch gestoppt werden könnte. „Die katholische Kirche rast mit diesen Zahlen in den Abgrund ihrer Bedeutungslosigkeit. Die katholische Kirche in ihrer bekannten Sozialgestalt stirbt ohne Hoffnung auf Wiederkehr.“ Von einer Volkskirche werde sie zur Minderheitenkirche. „Das muss nicht schlecht sein, wird aber den aktuell verantwortlichen Bischöfen viel abverlangen“, sagte Schüller.

Kirchenaustritt: In Essen sind Termine bis März ausgebucht

Die Erschütterungen in der katholischen Kirche seit Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens haben auch in Essen zum Teil dramatische Auswirkungen: Offenbar droht der Kirche eine neue Austrittswelle. Ein klares Indiz: Bei den für Kirchenaustritte zuständigen Amtsgerichten am Bischofssitz Essen stehen die Telefone seit Tagen nicht mehr still. „Das Amtsgericht Essen-Mitte verzeichnet aktuell eine wesentlich höhere Zahl an Terminanfragen für Kirchenaustritte zusätzlich zu bereits online gebuchten Terminen“, sagt Amtsgerichtssprecher Michael Schütz dieser Zeitung.

Dieselbe Beobachtung macht das Amtsgericht Borbeck. Dort heißt es: „Die Nachfrage nach Terminen für Kirchenaustritte hat sich in dieser Woche nochmals extrem gesteigert.“ Wie das Borbecker Amtsgericht mitteilt, hätten sich allein am Dienstag (25. Januar) 40 Essenerinnen und Essener telefonisch gemeldet, um einen Termin für den Kirchenaustritt zu vereinbaren. Die Folge: Für den Monat Februar bis hinein in die erste März-Woche seien inzwischen alle freien Termine vergeben.

Zusammenhang zwischen Missbrauchsgutachten und Kirchenaustritten

Offenbar besteht bei aktuell geplanten Austritten ein direkter Zusammenhang zum Missbrauchsgutachten, aber auch zur jüngsten Berichterstattung über das vielfache Leid homosexueller Kirchenbeschäftigter. Um diesen Missstand zu beenden, haben sich deshalb 25 queere Beschäftigte zu einem überraschenden Massen-Coming-Out entschieden. Auffällig: Das Ruhrbistum gilt im Umgang mit homosexuellen Kirchenbeschäftigen als ausgesprochen tolerant und respektvoll.

Wie aktuelle Erhebungen der Amtsgerichte Essen-Mitte und Borbeck für das Jahr 2021 zeigen, kehren ohnehin immer mehr Menschen in dieser Stadt der katholischen Kirche den Rücken. Allein der große Amtsgerichtsbezirk Essen-Mitte registriert einen alarmierenden Anstieg. In absoluten Zahlen ausgedrückt: 1870 Austritte in 2021 gegenüber 1078 im Jahr 2020. Das entspricht einer sprunghaften Zunahme von rund 80 Prozent. Das kleine Amtsgericht Borbeck verzeichnet im letzten Jahr 322 Austritte gegenüber 251 in 2020, ein Zuwachs von knapp 30 Prozent.

Auch der Vergleich mit dem weiter zurückliegenden Zeitraum bestätigt den Abkehrtrend in der katholischen Kirche in Essen. In den vier Jahren 2016 bis 2019 gab es 822, 802, 1125 und 1295 Austritte.

Bemerkenswert ist für Essen-Mitte allein schon der Vergleich von Januar 2022 und Januar 2021. Danach gab es bis zum 26. Januar 2022 bereits 178 Austritte von Katholiken. Im ganzen Vorjahresmonat waren es lediglich 96 – das kommt fast einer Verdoppelung gleich.

Der zweite Essener Vorort, für den Kirchenaustritte registriert werden, ist Steele. Die Zahlen des dortigen Amtsgerichts lagen dieser Zeitung am Mittwoch bis Redaktionsschluss allerdings noch nicht vor.

Bistum Essen: „Mit Transparenz und Aufklärung für neues Vertrauen werben“

Bistumsweite Zahlen zu Kirchenaustritten wird es zwar erst in diesem Sommer geben. Trotzdem reagiert das Bistum Essen bereits jetzt auf die drohende Austrittswelle in der Bischofsstadt, der größten in der Diözese. Ein deutlicher Anstieg im vergangenen Jahr sei zu erwarten gewesen, heißt es in einer Erklärung vom Mittwoch. Weil die Amtsgerichte 2020 coronabedingt vorübergehend geschlossen gewesen seien, ergebe sich ein gewisser „Nachholeffekt“. Die Diözese betont aber auch: „Für die Leitung des Bistums Essen ist völlig klar, dass zum Beispiel die Diskussion über das Münchener Missbrauchsgutachten bei vielen Katholikinnen und Katholiken neue Fragen aufwirft und manche unsicher werden, ob die Kirche, zu der sie oft schon seit vielen Jahren gehören, ihnen noch eine Heimat bietet.“

Umso intensiver bemühe sich das Bistum Essen darum, „mit Transparenz und Aufklärung für neues Vertrauen zu werben und durch attraktive Angebote den Glauben an Jesus Christ als persönliche Hilfe für jeden Menschen und als relevante Perspektive für unsere Gesellschaft zu verbreiten“. (mit dpa)