Essen. Eine 83-Jährige fährt in Essen wohl ungebremst in eine Menschenmenge. Ein Mann stirbt. Die Seniorin sagt dazu vor Gericht erstmal nichts.
Sie schweigt. Auch angesichts der Menschen im Saal, die mutmaßlich durch die Fahrweise der 83-Jährigen einen Angehörigen verloren haben. Vor rund zwei Jahren war sie laut Anklage mit ihrem BMW X1 im Essener Stadtteil Frohnhausen bei Tempo 50 in eine Gruppe ein- und aussteigender Fahrgäste einer Straßenbahn gefahren. Neun Menschen soll sie verletzt haben. Ein weiterer Mann, 66 Jahre alt, starb an den Folgen seiner Verletzungen.
Eine Erklärung gibt es bis heute nicht für die Fahrweise der Bredeneyerin. Kurz nach dem Unfall am 29. Februar 2020 an der Haltestelle „Gervinusstraße“ soll sie Polizeibeamten erklärt haben, dass sie ihren Wagen eigentlich an der roten Ampel vor der Haltestelle habe abbremsen wollen. Mit dem Bremspedal habe aber etwas nicht gestimmt, und so sei sie weiter auf dem Gaspedal geblieben. Die Beamten meinten damals, sie habe das desinteressiert erzählt. Aber vermutlich stand auch sie unter Schock und hatte sich zudem um ihren dementen Bruder zu kümmern, der auf dem Beifahrersitz ihres Kompakt-SUV gesessen hatte.
Großer Andrang an Kameraleuten im Landgericht Essen
Am Montag verfolgt sie teilnahmslos den großen Andrang an Kameraleuten im großen Schwurgerichtssaal 101 des Landgerichtes Essen. Ihre glatten weißen Haare verbirgt sie unter einer Wollmütze, die sie erst abnimmt, als Richter Sebastian Jordan, Vorsitzender der XXIV. Strafkammer, die Aufnahmen untersagt. Geschäftsfrau war sie früher, leitete im Essener Stadtteil Altendorf einen Handwerksbetrieb, den sie erst 2015 auflöste.
Ihr gegenüber sitzen Angehörige des Verstorbenen und mehrere Rechtsanwälte, die die Opfer vertreten. Es ist still, als Staatsanwältin Sarah-Kristina Erl die Anklage verliest, die auf fahrlässige Tötung, Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässige Körperverletzung in zehn Fällen lautet. Was sie schildert, erinnert an Amokfahrten oder Terroranschläge. Die Tat hat Menschen getroffen, die sich keiner Gefahr bewusst waren und offenbar auch keine Chance hatten, dieser Gefahr auszuweichen.
Anklage: Mit zwei Reifen über den Gehweg gefahren
Gegen 17.25 Uhr hatte eine Bahn der Linie 109 an der Haltestelle „Gervinusstraße“ gestoppt. Dahinter hielt eine 22-Jährige ihren Wagen vor der roten Ampel an. Hinter ihr soll auch kurz die Angeklagte ihr Auto abgebremst, dann aber plötzlich beschleunigt haben und nach rechts gefahren sein. Sie habe den Wagen überholt und sei auch an der Straßenbahn im hohen Tempo rechts vorbeigefahren. Mit zwei Reifen sei sie dabei über den Gehweg gefahren, heißt es in der Anklage. Ein Gutachter hatte ein Tempo von 50 bis 65 km/h errechnet.
Es sind vor allem junge Menschen, 13, 14 und 19 Jahre alte, die vom Wagen der damals 81-Jährigen erfasst werden. Zeugen berichten, dass Opfer zur Seite geschleudert und ungebremst auf dem Asphalt landeten. Sie erzählen, wie ein Jugendlicher einige Meter auf der Motorhaube mitgenommen wird, bevor er seitlich gegen einen Pkw im Gegenverkehr geschleudert wird. Der 13-Jährige erlitt einen offenen Schädelbruch, musste im Uni-Klinikum notoperiert werden.
66-Jähriger stirbt nach drei Wochen im Krankenhaus
Ein 14-Jähriger wird hochgeschleudert und landet auf dem Asphalt. Er schwebt in Lebensgefahr, auch er wird mit einer Notoperation gerettet. Einem 66-Jährigen, der ebenfalls auf die Motorhaube geschleudert wird und dann auf dem Boden prallt, hilft keine medizinische Kunst. Er stirbt drei Wochen später im Uni-Klinikum an den Folgen seiner Schädel-, Brust- und Beckenverletzungen.
Die Angeklagte soll das von ihr verursachte Schlachtfeld, ein anderer Begriff fällt schwer, in hohem Tempo verlassen haben. Der Fahrer der Bahn will deutlich wahrgenommen haben, dass der Motor des BMW mit einem Kickdown beschleunigt wurde. Etwa hundert Meter nach der Unfallstelle kam sie zum Stehen. Kurz zuvor war sie wohl noch gegen ein geparktes Auto geprallt.
Prozess ist auf elf Verhandlungstage angesetzt
Rechtsanwalt Andreas Wieser erklärt zum Auftakt des auf elf Tage terminierten Prozesses, seine Mandantin werde schweigen. Er gibt aber eine Erklärung ab, in der er an das Leid der Opfer erinnert. „Die Familien erwarten Antworten“, räumt er ein, macht ihnen aber keine Hoffnungen: „Es gibt nicht auf alle Fragen Antworten.“
Dann bittet er das Gericht um ein faires Verfahren: „Allein das Alter meiner Mandantin muss nicht für den Unfall verantwortlich gewesen sein.“ Mehr kommt zu diesem Zeitpunkt nicht von ihm. Auch kein Bedauern oder eine Entschuldigung im Namen der Angeklagten.