Duisburg. Sein Schicksal drohte in Vergessenheit zu geraten, bis ein 92-Jähriger seine Kindheitserinnerung offenbarte: Leopold Cahn wurde 1943 ermordet.

Leopold Cahn war Jude und Opfer der NS-Zeit. Er wurde am 4. Februar 1943 zwei Wochen nach seiner Ankunft im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Es schien so, als ob die schlimme Geschichte des Duisburgers längst der Vergänglichkeit zum Opfer gefallen ist.

Doch im Herbst 2023 wandte sich der 92 Jahre alte Friedhelm Kimpel an das Zentrum für Erinnerungskultur der Stadt Duisburg (ZfE). Seine Großeltern lebten gemeinsam mit Familie Cahn in dem Haus an der Aakerfährstraße 92 in Duissern. Dort wurde nun auf Initiative Kimpels Leopold Cahn mit einem Stolperstein geehrt. 

Duisburger erinnert sich an den „freundlichen Mann“ und zwei SS-Männer

Kimpel war elf Jahre alt, als Leopold Cahn am 17. Juli 1942 aus dem Haus seiner Großeltern von zwei SS-Männern abgeführt wurde. „Ich habe nie verstanden, warum dieser freundliche und zurückhaltende Mann gehen musste“, sagt Kimpel.

Friedhelm Kimpel und der Jugendring haben sich für das Gedenken an Leopold Cahn eingesetzt.
Friedhelm Kimpel und der Jugendring haben sich für das Gedenken an Leopold Cahn eingesetzt. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Diese Kindheitserinnerungen, so verschwommen sie auch sind, seien ihm nie aus dem Kopf gegangen. „Wegen dem aufblühenden Antisemitismus, hatte ich das Gefühl, dass ich etwas sinnvolles mit meiner Zeit anfangen muss”, erzählt Kimpel. Deshalb wandte er sich an das ZfE, welches gemeinsam mit dem Jugendring Duisburg die Stolpersteinverlegung organisierte.

Robin Richterich vom ZfE ist froh, dass sich Kimpel an sie wandte. „Fast vergessene Geschichten wie diese zeigen uns, wie brutal während der NS-Zeit versucht wurde, das jüdische Leben in Deutschland zu vernichten”, sagt er. Das ZfE versuchte mithilfe der Kindheitserinnerung des heute 92-Jährigen und wochenlanger Recherche im Duisburger Stadtarchiv und Landesarchiv NRW ein Bild über das Leben Leopold Cahns zu zeichnen.

Leopold Cahn musste sich verstecken

Der Tiefbauarbeiter Leopold Cahn wohnte mit einer christlichen Ehefrau an der Aakerfährstraße 92 in Duissern. Trotz der Repressionen des NS-Regimes lebte auch nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 „ein relativ normales Leben”, erinnert sich Kimpel. „Wenn wir Kinder auf dem Feld gespielt haben und er vorbeiging, hat er uns immer freundlich gegrüßt”, erzählt er. Kimpels Großeltern und Eltern hätten zunächst angenommen, dass Cahn wegen seiner christlichen Ehefrau von den Verbrechen der Nationalsozialisten verschont bleiben würde.

Doch 1939 musste Cahn in ein sogenanntes Judenhaus an der Junkernstraße 2 ziehen. Mit der Umsiedlung der jüdischen Bevölkerung in speziell für sie errichtete Wohnhäuser wollten die Nationalsozialisten Wohnraum für die „deutschblütige Bevölkerung“ schaffen. Trotzdem verbrachte Cahn laut Kimpel die meiste Zeit bei seiner Frau in dem Haus an der Aakerfährstraße. Zwischenzeitlich soll er sich auf dem Dachboden und der anliegenden Gartenkolonie versteckt haben.

Verrat und Denunziantentum

Die erste Inhaftierung Leopold Cahns geschah im Februar 1942. Er wurde von zwei Frauen denunziert, weil er im Luftschutzbunker Gerüchte über den damaligen Duisburger Oberbürgermeister Hermann Freytag von der NSDAP verbreitet haben soll. Dieser soll einen verschwenderischen Lebensstil an den Tag gelegt haben und für seine ausschweifenden Partys bekannt gewesen sein, während der Rest der Bevölkerung unter den Rationierungen der Kriegswirtschaft zu leiden hatte.

Flugblätter zeugen davon, dass diese Gerüchte in der Duisburger Bevölkerung zum damaligen Zeitpunkt weit verbreitet waren.

Außerdem wurde Cahn aggressives Verhalten unterstellt. Doch diese Vorwürfe stimmen überhaupt nicht mit den Kindheitserinnerungen Kimpels überein. „Er galt in der Nachbarschaft als sehr ruhiger Mensch”, erinnert er sich. Die Denunziantinnen zogen ihre Aussagen im Laufe des Verfahrens aber zurück.

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Damit fehlte der Duisburger NS-Führung die Grundlage, Cahn in einem Schauprozess als Urheber der Gerüchte darzustellen. So wurde er am 10. April 1942 zunächst aus der Haft entlassen.

Der Tag, an dem sie Leopold Cahn holten

Zwei Monate später folgte die zweite Verhaftung. In der Zwischenzeit waren Dokumente eines NS-Funktionärs aus Hamm bekannt geworden, die die Gerüchte um Freytags Lebensstil untermauerten.

Mutmaßlich wurde Cahn wegen dieser Informationen erneut verhaftet. „Die Nazis brauchten schnell einen Sündenbock, um ihr Gesicht zu wahren”, sagt Kimpel. Nach seiner Verurteilung wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er am 4. Februar 1942 ermordet wurde.

Ingeborg Schmittens (92) erinnert sich genau an jenen Sommertag im Juni 1942, an dem zwei SS-Männer Leopold Cahn aus der Wohnung zerrten. Ihren Großeltern gehörte das Haus, in dem Kimpels Großeltern und Familie Cahn lebten. „Es war ein riesen Geschrei”, erinnert sie sich, „so etwas vergisst man nicht”. Er habe wahrscheinlich gewusst, dass er nicht mehr wiederkommen würde, so Schmittens.

Zeitzeugen rufen zur Wachsamkeit auf

Die beiden Zeitzeugen rufen die jüngere Generation dazu auf, wachsam zu sein und die Demokratie wertzuschätzen. „Das Böse kommt wieder, sagt Schmittens. „Wenn wir aus Herr Cahns Geschichte lernen, hatte seine Verfolgung wenigstens einen Sinn”, so Kimpel.

Der Stolperstein an der Aakerfährstraße in Duissern macht jetzt auf das Schicksal von Leopold Cahn aufmerksam.
Der Stolperstein an der Aakerfährstraße in Duissern macht jetzt auf das Schicksal von Leopold Cahn aufmerksam. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Er ist sich sicher, dass Stolpersteine dazu beitragen, die Erinnerungen am Leben zu erhalten. Er hat sich bereits Messingreiniger geholt, um den Stolperstein an der Aakerfährstraße regelmäßig zu pflegen.

>>Stolpersteine in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

  • Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der damit auf die Lebensgeschichten der Opfer des Nationalsozialismus aufmerksam machen will.
  • Seit der ersten Stolpersteinverlegung im Jahr 1996 in Berlin-Kreuzberg sind über 100.000 Stolpersteine in 1265 deutschen Kommunen und 21 weiteren europäischen Ländern verlegt worden.
  • In Duisburg erinnern heute über 300 Stolpersteine an die Opfer des Nationalsozialismus.