Duisburg. Die Tänzer Avi Kaiser und Sergio Antonino bei den Duisburger Akzenten: Wie die beiden mit einfachen Bewegungen dem Glück auf die Spur kamen.
Vielleicht ist eine Choreographie wie ein guter Wein – sie reift mit dem Alter. Ein starkes Argument für diese Theorie lieferten jedenfalls die beiden Tänzer Avi Kaiser und Sergio Antonino am Samstagabend in der Kulturkirche Liebfrauen.
Im Rahmen der Duisburger Akzente brachten die beiden Künstler den Tanzabend „When Air is still around“ auf die Bühne, ein Stück Tanztheater, dass eigentlich für die Akzente 2020 mit dem Thema „Glück“ konzipiert wurde. Zwei Jahre lang haben die Tänzer an der Choreographie weitergefeilt, die in Duisburg ihre Deutschlandpremiere feierte. Es hat sich gelohnt – das Publikum erlebte einen intimen, hochmetaphorischen, ästhetischen Tanzabend.
Duisburger Liebfrauenkirche wird zum geschlossenen Kosmos
Zu Beginn schleppen Kaiser und Antonino je zwei Müllsäcke auf die Bühne. Was folgt, ist ein Tanz im übertragenen Sinne: Die beiden schleichen umeinander herum, beobachten den anderen, ahmen sich gegenseitig nach und fordern sich heraus. Zwar gehen die Tänzer mit ihren geschmeidigen Schritten aufeinander ein, doch es ist keine romantische, friedvollen Bezugnahme auf den anderen. Vielmehr fühlt es sich wie ein Belauern an. Den Ton angeben, ohne anzuecken, keinen Fehler machen, bloß nicht auffallen.
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Doch die Spannung legt sich bald wieder. Die beiden Fragen sich, wann man denn glücklich sei, was Glück überhaupt ist. Die Antwort suchen sie in einem Tango. Wie alle Paartänze und unison choreographierten Abschnitte am Abend ist auch der südamerikanische Tanz ein Highlight. Avi Kaiser und Sergio Antonino bewegen sich natürlich und im unverdorbenen Sinne des Wortes „primitiv“. Kein zappeln oder verrenken, aber dafür simpel, geradlinig und formvollendet.
Wie sich die Tänzer bewegen, fühlt sich richtig an, sogar wie die einzig richtige Bewegung in diesem Moment. Die Künstler und der Moment gleiten, fließen dahin und verwandeln das Obergeschoss der Liebfrauenkirche kurz in einen geschlossenen Kosmos, in dem nur der Augenblick zählt.
Wie die Tänzer das Glück finden
Später kommen die beiden dann dem Glück ein wenig auf die Spur. Helfen und Hilfe bekommen, Hören und gehört werden, es gehört beides dazu. Der freudetrunkene Tanz, der dieser Erkenntnis folgt und die Tänzer in die Vertikale zieht, wandelt sich aber schnell in einen Kampf. Mit martialischen, schwarzen Helmen auf dem Kopf verstreuen Kaiser und Antonino schwarzen Abfall auf der Bühne, die sich vom spartanischen Untergrund langsam in ein echtes Schlachtfeld verwandelt.
Als die Helme weg sind, entweicht auch die drückende Stimmung von der Bühne. In einer weiteren Unison-Passage wiegen sich die beiden Tänzer wie Pflanzen im Wind, bevor Avi Kaiser Textstellen aus Beethovens 9. Symphonie zitiert – natürlich auch den berühmten Götterfunken.
Das Glück braucht immer einen anderen Menschen
Die unbändige Euphorie des Beethoven-Werks, das hier in Fragmenten erklingt, bleibt nicht unangetastet. Wie ein Mantra wiederholt, werden Kaisers Zitate bald lächerlich-sinnentleert, und mit einem lauten Schrei setzt Sergio Antonino dem erzwungenen Frohsinn ein Ende. Ganz passend also, dass der letzte Abschnitt des Abends ein Trauermarsch ist. Ineinander verschlungen winden sich die Tänzer auf der Bühne und lassen ihr großes Thema anklingen: dass das Glücklichsein eigentlich alles immer noch einen anderen Menschen brauch.
Das Publikum honoriert den filigranen Kraftakt mit großem Applaus. Verständlich, denn schon wieder schaffen es die beiden Künstler, ein Tanzerlebnis zu kreieren, dass die Anwesenden ganz und gar von der Außenwelt abkapselt und in einen anderen Kosmos abtauchen lässt. Für eine Stunde waren alle Menschen in der Liebfrauenkirche vielleicht wirklich ein wenig Brüder.
>> DAHEIM IN DUISBURG UND TEL AVIV
- Die Tänzer Avi Kaiser und Sergio Antonino sind Artists in Residence in Duisburg und Tel Aviv. Seit 2002 haben die beiden 20 Tanztheaterstücke choreographiert und sie in der ganzen Welt aufgeführt.
- Bei den Duisburger Akzenten sind die beiden alte Bekannte. 2019 beeindruckten sie das Publikum mit „L’État des choses“. Bei der diesjährigen Ausgabe würdigten sie den verstorbenen israelischen Bildhauer Dani Karavan inmitten dessen „Garten der Erinnerung“ im Innenhafen.