Bottrop. Karim* kam als afghanische Ortskraft nach Bottrop. Die Taliban bedrohen seine Familie. Der 22-Jährige ist verzweifelt und fühlt sich schuldig.
Karims* linkes Bein wippt, er knetet seine Hände unter dem Tisch, richtet den Blick zum Boden. An seinem linken Mittelfinger leuchtet der rote Stein seines Rings, ein Geschenk seiner Mutter. Seitdem die Taliban am 15. August die Macht in seiner Heimat Afghanistan übernommen haben, ist das Leben des jungen Mannes ein anderes, eines voller Angst, voller Schlaflosigkeit und Gewissensqual. Denn Karim ist in Sicherheit, während das Leben seiner Familie in Kabul bedroht ist. Er sitzt in einem Bottroper Café, trägt Jeans, Slipper und kariertes Flanellhemd, ein Übersetzer überträgt seine Worte von Paschto ins Deutsche. „Ich fühle mich schuldig“, sagt der 22-Jährige, der über eine Entscheidung nachdenkt, die einem Selbstmord gleichkäme.
Karim, dessen Namen wir nicht nennen, um seine Familie nicht noch weiter zu gefährden, hat als Ortskraft für ein deutsches Entwicklungsprojekt gearbeitet. Er hat mit deutschen Geldern arme afghanische Familien unterstützt, hat geholfen, die desolate Infrastruktur im Land zu verbessern. „Wir haben viele positive Veränderungen bewirkt“, sagt Karim. „Aber jetzt ist alles kaputt, es ist hoffnungslos.“
Deutsche Ortskraft in Bottrop: Die Flucht vor der Taliban
Karim ist in Kabul aufgewachsen, ist in der afghanischen Hauptstadt zur Schule gegangen, hat studiert und seit vier Jahren in der Entwicklungshilfe gearbeitet. Am 24. November vergangenen Jahres erhält er einen Anruf vom Auswärtigen Amt in Deutschland: Er solle sofort zum Kabuler Flughafen kommen, werde schnellstmöglich evakuiert. Nein, seine Familie – seine Eltern und seine vier Brüder – können nicht mitkommen.
Seinem kleinen Bruder verspricht Karim, ihn nachzuholen. Er zieht sich traditionelle Kleidung an, bangt in jedem Moment auf dem Weg zum Flughafen davor, erkannt zu werden. Ihm gelingt die Flucht, nach zwei Wochen in Qatar bringt ihn eine Charter-Maschine nach Düsseldorf, von dort geht es erst nach Hannover, im Dezember schließlich nach Bottrop.
Schon seit zwei Jahren sei die Situation in Afghanistan gefährlicher geworden. Die Taliban erstarkt in den Provinzen, das deutsche Projekt, für das Karim arbeitet, zieht seine Mitarbeiter in Kabul zusammen, zu unsicher ist das ländliche Umfeld. Nach der Machtübernahme der Taliban zieht Karim mit seiner Familie an einen geheimen Ort, sie wechseln alle wenige Monate die Adresse, fernere Verwandte dürfen nicht wissen, wo sie leben, zu groß ist die Sorge, dass sie jemand verrät.
Unerträgliche Schuldgefühle: „Ich bin körperlich hier, aber seelisch nicht“
Nachdem Karim aus Kabul geflüchtet ist, spitzt sich die Situation für seine Familie zunehmend zu. Sein Vater, seine Brüder, sie werden in Sippenhaft genommen für das abtrünnige Verhalten ihres Sohnes und Bruders, dürfen nicht zur Schule, nicht zu Universität, verlieren ihre Arbeit. Denn die Taliban verfolgen jene, die mit einer ausländischen Initiative zusammengearbeitet haben, machen ihre Familien mitverantwortlich. Karims Familie lebt in Angst vor einer Festnahme – oder Schlimmerem.
Für Karim ist dieses Schuldgefühl unerträglich. Er kann kaum noch schlafen, kann keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen, um ihren Aufenthaltsort nicht zu verraten; Gespräche werden nachverfolgt und abgehört. Dass er nur sein Leben retten konnte, macht ihn verrückt. „Ich bin körperlich hier, aber seelisch nicht, ich bin geistig nicht gesund.“
Familiennachzug aus Afghanistan ist nur für „Kernfamilie“ möglich
Über das Auswärtige Amt versucht er, seine Familie aus dem Land zu holen. Doch die Definition des Familiennachzugs erlaubt es ihm nicht. Ortskräfte dürfen nur ihre „Kernfamilie“ mitbringen, ihren Ehepartner und minderjährige Kinder. Für die afghanische Lebensweise greift diese Definition zu kurz. Karim lebt mit seinen Brüdern, 15, 17, 21, 25 Jahre alt, und seinen Eltern zusammen. Das ist seine Kernfamilie.
Dieses Problem gebe es bei vielen afghanischen Ortskräften, sagt Alexander Bühler von der Initiative Luftbrücke. „Der Familienverbund in Afghanistan ist stärker“, sagt Bühler. Kinder, Eltern, Großeltern leben zusammen. „Und die Taliban nehmen die ganze Familie in Sippenhaft.“ Viele dachten, sie fliehen und holen ihre Familie sofort nach, doch dieser Prozess dauert nach dem Aufenthaltsgesetz zwei, drei Jahre. Die Gefahr durch die Taliban aber ist akut.
Rückkehr nach Afghanistan: „Ich würde nicht einen Tag überleben“
Karim ist so verzweifelt, dass er darüber nachdenkt, zurück nach Afghanistan zu kehren, um seine Familie zu retten. Ihnen wurde eine Nachricht übermittelt: Sollte er sich stellen, könnten seine Brüder wieder studieren, sein Vater wieder arbeiten. Für Karim bedeutete dieser Schritt den sicheren Tod. „Ich bin sicher, dass ich nicht einen Tag überleben würde.“
Doch die Gedanken des Geflüchteten kreisen unentwegt um seinen kleinsten Bruder, den 15-Jährigen, dem er versprach, ihn zu retten. „Ich kann nicht mit ihm reden, ich könnte mich nicht kontrollieren.“ Seine nächsten Schritte, seine Prioritäten, seine Zukunft – Karim kann sich nicht fokussieren auf diese Gedanken.
Einen Integrationskurs musste er abbrechen, weil er keinerlei Konzentration findet. Er tut sich schwer mit deutschen Behörden, hat bislang keine Krankenversicherungskarte, kann sich keine medizinische Hilfe suchen. Der 22-Jährige lebt mit drei weiteren afghanischen Männern in einem Raum in einer Sammelunterkunft in Bottrop.
Bottroper Sozialamtsleiterin: „Wir haben null Plätze frei“
Eine Situation, die sich aktuell nicht ändern ließe, sagt Sozialamtsleiterin und designierte Sozialdezernentin Karen Alexius-Eifert. „Unser Raumangebot ist so knapp, wir haben null Plätze frei.“ Schon vor dem Beginn des Ukraine-Krieges, seit dem Hunderte Flüchtlinge in Bottrop angekommen sind, seien die Unterbringungskapazitäten knapp gewesen. Allein zwischen Oktober und Dezember 2021 seien der Stadt mehr als 120 Personen zugewiesen worden.
Schon da war eine individuelle Unterbringung kaum machbar, heute ist sie es noch weniger. So bliebe nur die Möglichkeit, Fluchtgemeinschaften zusammenzubringen, Menschen mit ähnlichen Traumata. „Die gemeinsame Fluchtgeschichte schweißt zusammen“, sagt Karen Alexius-Eifert.
„Ich atme, aber ich bin kein aktiver Mensch“
Doch für Karim bedeutet diese Konstellation auch zusätzlichen Stress, vor allem, wenn nachts das Telefon von einem seiner Mitbewohner klingelt, wenn die Nachrichten der zunehmenden Unterdrückung der Bevölkerung zu ihnen herüberschwappt, die Gefahr, in der all ihre Familien leben, wieder real wird.
In zwei Momenten des Gesprächs huscht ein Lächeln über Karims Gesicht. Als er vom Ring an seinem Finger erzählt, dem Geschenk seiner Mutter, das ihn an sie denken lässt. Und als er sich erinnert, was er früher gerne gemacht hat: Cricket spielen. Gerade aber wäre er kaum dazu in der Lage. „Ich atme, aber ich bin kein aktiver Mensch.“
Info: Vorabzustimmung für das Visum der Familie möglich
In Bottrop leben laut Sozialamtsleiterin Karen Alexius-Eifert derzeit 138 Afghanen in städtischen Unterkünften. 30 Ortskräfte und Familienmitglieder seien in diesem Jahr angekommen. Alexius-Eifert sichert zu, dass Karim* nun aktiv von der Stadt Unterstützung bekommt.
Um den Familiennachzug zu beschleunigen, gebe es laut Emilio Pintea, Fachbereichsleiter Recht und Ordnung, nur die Möglichkeit, der Familie eine Vorabzustimmung für ihr Visum bei der Ausländerbehörde zu erteilen. Das würde die bürokratischen Wege verkürzen.
Das Aufenthaltsgesetz regelt den Familiennachzug für alle, es gibt keine Ausnahmen für afghanische Ortskräfte.