Bochum-Wattenscheid. Felix Lipski erlebte die Nazi-Gräuel als kleines Kind, das Erinnern sei seine Lebensaufgabe, sagt er. Worum er Schüler in Wattenscheid bittet.

Erinnern, sagt Felix Lipski, das sei seine Lebensaufgabe. 1938 in Minsk geboren, hat der heute 86-Jährige die Nazi-Gräuel als kleines Kind im Ghetto miterlebt. Seit 1998 wohnt er in Bochum, fast ebenso lange ist er als Zeitzeuge aktiv, spricht in Schulen oder auf Veranstaltungen über die NS-Zeit. Was er als kleiner Junge im Ghetto sah, „begleitet mich mein ganzes Leben“, sagt er.

Die Bezirksvertretung Wattenscheid und das Kuratorium „Stelen der Erinnerung e.V.“ haben am Freitagmittag zum Gedenken an die Reichspogromnacht geladen; erst im Rathaus, dann geht es gemeinsam zum Nivellesplatz. Hier stand bis zum 9. November 1938 die Synagoge, heute erinnern drei gläserne Tafeln an die Shoah-Opfer aus Wattenscheid.

Gedenkveranstaltung 9. November Wattenscheid
Auf den Stelen der Erinnerung sind die Namen der 87 Shoa-Opfer aus Wattenscheid verewigt, außerdem eine Innenansicht der Wattenscheider Synoagoge, die dort bis November 1939 stand. Das Porträt zeigt Schülerin Betti Hartmann, die 1942 im Alter von 15 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. © FUNKE Foto Services | Jonas Richter

Achtklässler aus Höntrop erinnern an „Nacht voller Schrecken“

„Ich bin noch nie hier gewesen“, gesteht Sara. Die Achtklässlerin der Realschule Höntrop hat gemeinsam mit Mitschülerinnen das Gedenken mitgestaltet. Geschichte steht erst in Jahrgangsstufe Neun wieder auf ihrem Lehrplan, Lehrerin Anja Mattheus hat die Gruppe in den vergangenen Monaten außerhalb des Unterrichts auf die Veranstaltung vorbereitet. Die Teenager erinnern an die „Nacht voller Schrecken“ vor 86 Jahren, tragen ein selbstgeschriebenes Gedicht vor. „Wir wollen Hass und Gewalt keinen Platz geben“, sagen sie. Und dass sie „Verantwortung für eine friedliche Zukunft“ tragen.

Gedenkveranstaltung 9. November Wattenscheid
Im Wattenscheider Rathaus trugen die Schülerinnen der Realschule Höntrop ein selbstverfasstes Gedicht vor. © FUNKE Foto Services | Jonas Richter

Die Namen der 87 Jüdinnen und Juden, die zwischen 1933 und 1945 in Wattenscheid lebten, werden verlesen. Sie hießen Heinz und Bertha, Hedwig und Erich, aber auch Ella, Leo, Hugo. Namen, die heute wieder modern sind. Das, sagen die Schülerinnen Sophia und Dionita, sei der Moment gewesen, der sie am meisten bewegt hat. „Erst da wurde richtig klar, worüber wir hier sprechen.“ 87 Menschen, 87 Schicksale, allein aus Wattenscheid. „Man kann sich nicht vorstellen, wie es war“, sagt Leonie.

Als Kind im Ghetto von Minsk: „Noch heute verfolgt es mich“

Felix Lipski weiß, wie es war. Drei Jahre war er alt, als die Nazis im Juli 1941 die Sowjetunion überfielen und wenige Tage später Minsk im heutigen Weißrussland besetzten. Rund 100.000 jüdische Menschen wurden im Ghetto eingepfercht, darunter Felix mit seiner Mutter. Nach einem Jahr seien nur noch 9000 von ihnen am Leben gewesen.

Lipski erzählt vom Hunger, davon, wie regelmäßig Menschen erschossen oder in „Gaswagen“ geschickt wurden. Er könne die Angst auch so viele Jahre später noch fühlen, sagt er. „Noch heute verfolgt es mich.“ Er überlebte, weil die Mutter im Sommer 1943 mit ihm aus dem Ghetto flüchtete, sich Partisanen anschloss.

„Das, was vor 86 Jahren war, ist heute wieder möglich.“

Felix Lipski, Holocaust-Überlebender

Zeitzeugen wie Felix Lipski gibt es immer weniger. Auch seine Kräfte schwinden, vieles falle ihm mit 86 Jahren schwerer. Trotzdem sei es heute wichtiger denn je, an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern. Die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 seien der Vorbote des Holocaust gewesen, mahnt er. Dass fast auf den Tag genau 86 Jahre später israelische Fußballfans in Amsterdam durch die Stadt gejagt und angegriffen werden, erschüttere ihn zutiefst. Auch das: ein Pogrom, „nah bei uns“, keine drei Stunden Autofahrt entfernt.

„Alles kann sich wiederholen“, mahnt Lipski. Der Hamas-Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 sei das schlimmste Ereignis für Juden seit dem 2. Weltkrieg gewesen. „Das, was vor 86 Jahren war, ist heute wieder möglich.“ Deshalb „flehe ich Sie an, die Holocaustopfer nicht zu vergessen“.

Erinnerung auch an Hannes Bienert

In seiner Ansprache vor den „Stelen der Erinnerung“ erinnerte Felix Lipski auch an Hannes Bienert. Der Gedenkort auf dem Nivellesplatz ist Bienerts Engagement zu verdanken: Der Gründer der Antifaschistischen Bewegung (Antifa) Wattenscheid sorgte dafür, dass die drei gläsernen Stelen komplett durch Spenden von Bürgern und Unternehmen finanziert und 2009 eingeweiht wurden. Ebenso geht auch die Umbenennung des Rathausvorplatzes in Betti-Hartmann-Platz auf seine Initiative zurück.

Bienert ist im Oktober 2015 im Alter von 87 Jahren gestorben. Nach seinem Tod hat sich das Kuratorium „Stelen der Erinnerung“ gegründet, das seine Arbeit seitdem weiterführt und unter anderem die jährliche Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht in Wattenscheid organisiert.

Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte dürfe nicht in Vergessenheit geraten, sagte Bezirksbürgermeister Marc Westerhoff (CDU) im Ratssaal. Es brauche eine „Erinnerungskultur, die uns das Grauen vor Augen führt“. Auf dem Nivellesplatz wurde zum Abschluss der Veranstaltung das Kaddisch gesprochen, das jüdische Heiligungsgebet, mit dem Verstorbener gedacht wird. Die Gedenkveranstaltung fand am Mittag des 8. November statt, weil der eigentliche Jahrestag auf den jüdischen Ruhetag Schabbat fällt.