Bochum. Bauingenieur Arian H. aus Bochum sorgt sich um Familie in Afghanistan. Er kritisiert gebrochene Versprechen und mahnt: „Vergesst uns nicht.“

Arian H. nimmt einen Schluck Pfefferminztee. In seinem Wohnzimmer in Altenbochum krabbelt der zweijährige Sohn übers Sofa. Ende Mai bekommt er ein Geschwisterchen. Es ist eine kleine Idylle, doch den gebürtigen Afghanen plagen große Sorgen. Seit der Machtübernahme der Taliban bangt der Bauingenieur um seine Familie, die in Kabul festsitzt. Er berichtet von Armut, Gewalt und der Sorge, von der Welt vergessen zu werden.

Als die Taliban im August 2021 Kabul erobert hatten, war das Entsetzen im Westen groß. Das hat sich geändert. Neben dem Krieg in der Ukraine ist die Lage in Afghanistan nun oft nur noch eine Randnotiz.

Ich verstehe nicht, warum das von der Bildfläche verschwunden ist. Die Situation hat sich verschlimmert. Das ist ein langsames Sterben seit Monaten. Für Europäer wahrscheinlich weniger schmerzhaft.

Es leben mehrere Brüder, Schwägerinnen, Nichten und Neffen von Ihnen in Kabul. Was erzählt Ihnen die Familie über die Stimmung dort?

Es fühlt sich an, als wäre die Gesellschaft 20 Jahre zurückversetzt. Das ist bedrückend. Frauen gehen kaum raus. Männer müssen lange Bärte haben, sie tragen traditionelle Klamotten, wenn sie zur Arbeit gehen. Und die Armut ist extrem. In diesem Ausmaß hat es das in den letzten 20 Jahren kaum gegeben. 90 bis 95 Prozent der Menschen leiden darunter. Es ist traurig, das anzuschauen.

Zu Beginn der Taliban-Herrschaft hatte sich ihre Familie aus Angst in der Wohnung versteckt gehalten. Wie sieht jetzt der Alltag aus?

Sie versuchen, möglichst den Tag zu überleben. Es ist eine komische Situation. Einerseits muss man raus, um Brot für die Familie zu holen. Auf der anderen Seite ist immer die Gefahr: Werde ich auf der Straße geschnappt und in den Krieg geschickt? Es ist nicht so, dass die Taliban gerade Menschen systematisch verfolgen. Aber falls sie den Eindruck haben, dass ihnen Menschen gefährlich werden, dann ist man auch ganz schnell weg. Es ist meistens von der Stimmung der einzelnen Taliban abhängig, wie sie handeln. Eine rechtliche Grundlage gibt es nicht. Hinzu kommt, dass die Taliban die zivilisatorischen Prinzipien nicht kennen und das führt häufig zu Missverständnissen. Die Taliban fühlen sich provoziert und greifen zur Waffe; es gibt immer wieder Verletzte und Tote.

Selber geflohen

Arian H. aus Altenbochum ist selber aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Über den Landweg sei er bis in die Türkei gekommen und habe schließlich eine Route durch die heute umkämpfte Ukraine genommen. Mittlerweile arbeitet er als Bauingenieur

Gibt es Arbeit?

Mein Schwager sucht gerade einen neuen Job als IT-Fachmann. Deshalb ist es wichtig, dass man seinen Namen hier nicht findet. Das könnte für ihn sehr gefährlich sein. Ein Bruder von mir arbeitet bei einer afghanischen Nicht-Regierungsorganisation, die schwangere Frauen berät. Die Hilfsgelder sind eingefroren, er bekommt kein Gehalt. Aber er geht trotzdem zur Arbeit. Es ist seine einzige Hoffnung. Was sollen sie sonst machen?

Wovon lebt Ihre Familie dann?

Von Erspartem. Wir schicken Geld mit Unterstützung unserer Freunde. Die Familie rationiert ihr Essen. Ihnen ist es unangenehm, das Geld anzunehmen. Wie lange soll das gehen? Monate, Jahre? Worauf kann man unter dem Regime der Taliban hoffen?

Sie haben Nichten und Neffen. Wie hat sich der Alltag der Kinder verändert?

Die Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen, danach bleiben sie zu Hause. Mathematik, Physik, Englisch werden in den Schulen nicht mehr gelehrt. Es geht nur noch um Islam, Koran und Scharia. Was das aus den Kindern macht, das werden wir erleben. Da sehe ich keine rosige Zukunft.

Vor der Machtübernahme hatten ein Schwager und ein Bruder von Ihnen als Ortskräfte für Deutsche und Amerikaner gearbeitet.

Mein Schwager hat mit den Deutschen gearbeitet, mein Bruder war am Stützpunkt Gardez als Elektriker. Sein Dienstausweis liegt noch in seinem alten Büro, in seinem alten Schreibtisch. Er hat ihn nicht holen können. Und die Angst, entdeckt zu werden, die begleitet ihn.

Gab es denn keine Chance, Ihre Familie aus dem Land zu holen?

Anfangs war ich euphorisch. Ich dachte, dass wir das schon irgendwie schaffen. Aber dann kam der Ukraine-Krieg, der alles überschattet. Seitdem ist meine Hoffnung klein geworden. Der Westen hat Afghanistan wie ein Spielzeug genutzt. Und als man es nicht mehr gebraucht hat, einfach weggeschmissen.

Fühlen Sie sich vergessen?

Ja, komplett. Deutschland hat so eine große Verantwortung gegenüber Afghanistan. Dass die Menschen so hängengelassen werden, das finde ich beeindruckend. Wie kann man das als Politiker, als Gesellschaft zulassen? Es gab so viele Versprechungen, dass die Menschen noch rausgeholt werden. Die sind nicht erfüllt worden. Ich möchte den Ukraine-Krieg und Afghanistan nicht miteinander vergleichen. Ich kann mich in jeden Ukrainer hineinversetzen. Wir haben auch Raketen über unseren Köpfen gehabt. Diese Vibration, wenn eine Rakete einschlägt. Das vergisst man nie. Das geht durch die Knochen hindurch. Ich möchte nur, dass man Afghanistan nicht vergisst.

Sie geben die Hoffnung nicht auf, Ihre Familie doch noch rausholen zu können.

Hoffnung ist das Letzte, was man verlieren kann. Ich habe eine Liste mit den Namen meiner Familie, diese Liste liegt beim Außenministerium, bei der Luftbrücke Kabul, bei Politikern. Niemand verspricht etwas, aber es sind schon Monate vergangen – Ich habe hundert Male angerufen. In Afghanistan sehen viele Menschen nur noch die Flucht als Chance. Verhungern oder das Land verlassen. Sie können nur nach Pakistan oder Iran flüchten, wenn überhaupt, und in beiden Ländern werden sie nicht mit offenen Armen aufgenommen.

Sie selber haben Afghanistan über den Landweg verlassen. Was raten Sie ihrer Familie?

Ich befürworte das nicht. Bis zur Türkei ist es am gefährlichsten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man getötet wird. Mein Bruder hat fünf Kinder, trotzdem will er alles auf eine Karte setzen. Wenn er es auf dem Landweg hierhin schaffen würde und Asyl bekäme, dann hätte er Anrecht auf Familiennachzug. Ein Visum nach Pakistan kostet 1000 Euro. Somalia, Iran, Pakistan, vielleicht die Türkei geben ein Visum. Meine Familie hat nicht das Geld, um die Kosten zu bezahlen. Viele Afghanen möchten, dass ihre Töchter einen Schulabschluss machen können. Das ist neben der Arbeitslosigkeit und Armut ein Grund dafür, Afghanistan zu verlassen.