Bochum..

Heiligabend. Fest der Familien, Synonym für Besinnlichkeit? Nicht für jeden ist das Fest der Liebe eines, das in den späten Abendstunden daheim im Weihnachtsgans-Delirium unter dem Baum endet. Wer ist der heimliche Heiligabend-Gewinner — die Kirchen oder die Kneipen?

Wenn um kurz vor Mitternacht die Glocken läuten, ist die Propsteikirche St. Peter und Paul in der Innenstadt bereits bis zur letzten Bank gefüllt. Viele Christen zieht es scharenweise noch in die Christmette. Die ganz Tapferen mit Stehvermögen verharren sogar ohne Platz zum sitzen im hinteren Eingangsbereich der Kirche.

So gut gefüllt wie in der Weihnachtsnacht ist es hier das ganze Jahr über nicht. Doch plötzlich an Heiligabend kriechen all die „wundersamen Weihnachtsmäuse“ aus ihrem Loch heraus — James Krüss lässt grüßen. „Weihnachtschristen“ nennt Propst Michael Ludwig seine Festtags-Katholiken in der Predigt. Gemeint sind die Schäfchen, die nur zu jenen Hochämtern in den Schoß der Kirche zurückkehren, die auch vom Einzelhandel beworben und die von den Chocolatiers mit Süßigkeiten in Häschen- oder Weihnachtsmann-Form bedacht werden.

[kein Linktext vorhanden]Dunkle Kirche

An den meisten Sonntagen im Jahr fehlt es ihnen an Zeit und Lust, um den Gottesdienst zu besuchen. Doch für die meisten von ihnen ist „Weihnachten nur echt, wenn wir hier in der dunklen Kirche alle zusammen ,Stille Nacht’ singen“, wie eine Besucherin meint.

„Ist die Deutungshoheit von Weihnachten nicht längst unter dem Tannenbaum vom Mediamarkt entschieden worden?“, fragt Probst Ludwig in seiner Predigt. Es ist ein kleiner, mahnender Fingerzeig in Richtung Konsumgesellschaft und Säkularisierung. Doch an Heiligabend will der Geistliche nicht die Leviten lesen, sondern möglichst lebensnah die frohe Botschaft verkünden.

„Gott sagt: Ich komme und will die Welt retten. Ich will vorher keine 148 Mails checken.“ Die Quintessenz des Lukas-Evangeliums mit den Worten Tim Bendzkos. Das scheint die Weihnachtschristen zu beeindrucken. Fast noch mehr als der sanfte Weihrauchgeruch und die Kerzen.

Doch während die einen noch betend vor der Krippe knien und ihren „Stille- Nacht“-Ohrwurm summen, sind andere ein paar hundert Meter weiter schon auf dem besten Weg, um aus der vermeintlich stillen Nacht auszubrechen und Party zu machen.

[kein Linktext vorhanden]Laute Musik und Gelächter

Laute Musik, Gelächter und eine Wolke aus Bier und Zigarettenqualm schlägt Feierwilligen im Freibeuter entgegen. An einem Stehtisch unterhalten sich zwei Mittdreißiger über ihren Abend. „Gefeiert haben wir schon heute Nachmittag mit der Familie“, sagt Hans (33). „Die Familie liegt jetzt im Bett.“ Statt der Wandlung von Brot und Wein beim kirchlichen Abendmahl, zieht er ein kühles Astra vor. „In die Kirche gehe ich nicht. Aber Kneipen sind ja auch die Kirchen der Neuzeit“, meint er schmunzelnd. Ein Christkind zumindest gibt es dort auch: In sexy rotem Weihnachtsfrau-Kostüm beliefert Barkeeperin Cora Reichert die Feiernden mit allerlei Flüssigem, das für Seligkeit sorgen soll.

Bierglas statt Betlehem ist auch gegenüber im Mandragora angesagt. Die Freundinnen Tulin, Oldoz, Lisa und Natalie haben die Familienfeiern schon hinter sich. „Obwohl wir keine Christen sind, feiern wir Zuhause Weihnachten“, sagt Oldoz (27). Doch abends geht es auf die Piste. „Wir waren die letzten Jahre überall in der Welt unterwegs“, meint Natalie (29). „Und jetzt zu Weihnachten sehen wir uns endlich alle wieder.“ Gemeinsam wollen sie die Freundschaft feiern. Im Bahnhof Langendreer. Dort heißt die Party ,Holy Shit’.“