Bochum. Nach dem Horror-Unfall auf der A 43 sagt Klinik-Psychiater: Bei einem „erweiterten Selbstmord“ erlischt jedes Mitgefühl, jedes Denken an die Opfer.

Fassungslosigkeit herrscht nach dem Horror-Unfall auf der A43. In Höhe der Ausfahrt Heven starben am Samstagabend ein 36-jähriger mutmaßlicher Geisterfahrer aus Bochum und ein Paar (28,24) aus Breckerfeld. Wie kann es sein, fragen sich viele Menschen, dass ein Selbstmörder offenbar mutwillig Unschuldige mit in den Tod reißt? WAZ-Redakteur Jürgen Stahl sprach mit Prof. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums.

Herr Herpertz, überfällt auch Sie als Facharzt Fassungslosigkeit ob des Geschehens auf der A43?

Prof. Stephan Herpertz: Das lässt niemanden unberührt. In unserem Beruf müssen wir zwar leider allzu häufig mit Suiziden umgehen. In der Regel ist es aber eine Tat für sich allein. Der so genannte erweiterte Suizid, wie etwa beim Germanwings-Absturz im letzten Jahr (bei dem auch eine 58-jährige Bochumerin zu den Opfern gehörte, die Red.), ist extrem selten.

Was bewegt einen Menschen zu einer derart skrupellosen Tat?

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Prof. Stephan Herpertz: Wir sprechen von einer Hetero-Aggression. Sie richtet sich nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen andere. Man kennt das von Amokläufern. Sie suchen ein geradezu demonstratives Szenario, wollen zeigen: „Wenn ich schon sterbe, dann nehme ich andere mit.“

Eine Art Machtdemonstration?

Prof. Stephan Herpertz: So kann man es umschreiben. Jegliche Konsequenzen für die Opfer und deren Angehörige werden dabei ausgeblendet. Es geht nur noch um das eigene Ich, um die eigene vermeintliche Macht in diesen letzten Minuten und Sekunden.

Jegliches Mitgefühl ist erloschen?

Prof. Stephan Herpertz: Ja. Oft ist es auch ein Racheakt. Es dominiert die Gewissheit, es den anderen „gezeigt“ zu haben. So in der Art: „Ihr werdet noch lange an mich denken.“ Das sind Größenphantasien. Das hat eine andere Qualität als bei jemandem, der sich daheim mit Tabletten umbringt.

Sind Männer für ein derart mörderisches Verhalten anfälliger?

Prof. Stephan Herpertz: Bei Männern ist die Impulsität häufig größer. Das hat nicht nur etwas mit einem erweiterten Suizid zu tun. Frauen verüben deutlich mehr Selbstmordversuche. Bei Männern sind aber deutlich öfter erfolgreich.

Kann ein Psychiater eine derart verhängnisvolle Entwicklung erkennen, sogar stoppen?

Prof. Stephan Herpertz: Wenn ich als Arzt im Rahmen der therapeutischen Behandlung eine Eigengefahr durch Suizid erkenne, bin ich verpflichtet, den Patienten in die Psychiatrie einzuweisen – notfalls auch gegen seinen Willen. Bei einer Fremdgefährdung gilt das in besonderem Maße. Wie sich das im Falle des Bochumer Geisterfahrers dargestellt hat, kann ich natürlich nicht beurteilen. Dass er offenbar auf der Autobahn gewendet hat, könnte auf einen spontanen, impulsiven Entschluss hindeuten.