Bochum. Die Medizinische Flüchtlingshilfe in Bochum wird täglich mit den Folgen schlimmster Folter konfrontiert. Die Not ist gewachsen – das Team auch.

Herausgerissene Fingernägel. Per Autobatterie verabreichte Elektroschocks an Genitalien. Herabfallende Wassertropfen, die im Zehn-Sekunden-Takt auf der Schädeldecke zu explodieren scheinen. Vergewaltigungen als brutalst mögliches Verbrechen, Frauen und ihr soziales Umfeld zu zerstören: Die Schilderungen von Christian Cleusters machen atemlos, sprachlos, fassungslos. Als Geschäftsführer der Medizinischen Flüchtlingshilfe (MFH) wird der 32-Jährige täglich mit den Folgen von Folter konfrontiert. „Die Ausmaße sind furchtbar, auch für uns oft schwer zu verkraften. Das Assad-Regime in Syrien und der ,Islamische Staat’ sind besonders skrupellos“, sagt der Sozialwissenschaftler. Umso wichtiger sei die Arbeit, die das MFH-Team in Bochum leistet.

Medizinische Flüchtlingshilfe in Bochum: Folter ist allgegenwärtig

Die Aufgabe, die sich der Verein bei seiner Gründung 1997 in die Satzung schrieb, gilt bis heute: die Verbesserung der Gesundheit von Flüchtlingen. „Dabei fassen wir den Gesundheitsbegriff deutlich weiter als die physische Gesundheit und haben auch den psychosozialen Kontext einbezogen“, erklärt Christian Cleusters.

Die Medizinische Flüchtlingshilfe dokumentiert Narben, Wunden oder Knochenbrüche, die durch Folter und Misshandlung zugefügt wurden, für das Asylverfahren. Zudem widmet sie sich der psychosozialen Rehabilitation von Geflüchteten; heißt: den seelischen Narben. „30 bis 50 Prozent“, schätzt Cleusters, „haben traumatische Erfahrungen gemacht.“

Die Not ist groß – das Helferteam auch


Wer es nach Deutschland schafft, für den ist das MFH-Büro häufig einer der ersten Anlaufpunkte. Die Not ist groß. Die Zahl der Helfer ebenso. 19 hauptamtliche Mitarbeiter sind im Einsatz, darunter sechs Therapeuten und sieben Sozialarbeiter. Hinzu kommen 25 Ehrenamtler sowie die bemerkenswerte Zahl von 63 niedergelassenen Ärzten in Bochum und Umgebung, die gleichfalls ehrenamtlich ihre Unterstützung anbieten.

Allen gemein ist das Bemühen, Flüchtlingen zur Seite zu stehen. 620 waren es bei der MFH allein im vergangenen Jahr. Zum Glockengarten finden sie über andere Flüchtlinge, aber auch über Ärzte, Anwälte, die Stadt und weitere Beratungsstellen. „Die meisten Menschen stammen aus Syrien, Afghanistan, Guinea und dem Irak. Immer häufiger sind auch Kurden aus der Türkei dabei“, berichtet Christian Cleusters.

Flüchtlingen wird oft nicht geglaubt

Jeder kann kommen, unabhängig vom Herkunftsland. In einem ersten Gespräch wird geklärt, ob und welche Therapie erforderlich erscheint. Seit 2003 unterhält der Verein dafür ein Psychosoziales Therapiezentrum. Schwerpunkt ist die Arbeit mit Folter-Überlebenden, die auch im Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) begleitet werden.

Therapeutin Tatjana Tomic berät eine Klientin.
Therapeutin Tatjana Tomic berät eine Klientin. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch


„Ein großes Problem ist dabei, dass das Leid der Flüchtlinge nicht anerkannt wird“, sagt Cleusters. „Das Bundesamt glaubt ihnen vielfach nicht, weil eine glaubwürdige Schilderung des Erlebten fehle. Vergessen wird dabei, dass die Flüchtlinge gerade wegen dieser traumatischen Erlebnisse schlecht oder gar nicht zu einer glaubwürdige Schilderung in der Lage sind.“

Von der Willkommenskultur ist nicht mehr viel übrig geblieben


Das drang- und sorgenvolle Leben in Gemeinschaftsunterkünften, die drohende Abschiebung vor Augen, mache die Aufarbeitung nicht eben einfacher. Für einen Therapieplatz veranschlagt die Flüchtlingshilfe aktuell Wartezeiten von acht bis zehn Monaten. „Das ist natürlich nicht bedarfsdeckend, obwohl wir vor sechs Jahren erst neun Mitarbeiter hatten“, weiß der Geschäftsführer.

Was sich in den vergangenen Jahren sonst noch verändert hat? „Die Rechtslage ist rigider geworden. Wir brauchen mehr Zeit für einen Fall. Vielfach ist es ein Kampf gegen Windmühlen“, sagt Christian Cleusters. Und: Von der Willkommenskultur 2015/16 sei wenig übrig geblieben. „Die Anfeindungen haben wieder zugenommen – gegen Flüchtlinge, aber auch gegen unsere Arbeit.“

Verein zeigt auch politisches Engagement

Dabei gehe es nicht darum, „alle Flüchtlinge zu Opfern zu stilisieren“, betont man am Glockengarten, wo das Ladenlokal im Erdgeschoss nach der Corona-Pause jetzt wieder verstärkt für Kunst-, Musik- und Beratungsprojekte für Familien genutzt wird. Den Geflüchteten beizustehen, Partei für sie zu ergreifen, sei aber weiter ein Gebot der Stunde.

Das gelte auch für die politische Arbeit des Vereins und dessen Menschenrechts-Kampagne „Gerechtigkeit heilt“. Sie stemmt sich dagegen, dass viele Täter straflos bleiben – mit verheerenden Folgen für die Opfer von Folter und Vergewaltigung.