Bochum. „Wir halten das länger aus!“ Seit Beginn von Corona stehen pflegende Angehörige in Bochum ganz alleine da — und wissen nicht, wie es weitergeht.

„Ich habe keine Zeit mehr, um Luft zu holen. Ich gehe seit Wochen auf dem Zahnfleisch“, sagt Ingrid Ossa. Die 73-Jährige pflegt seit drei Jahren ihren Mann Armin (74), der an Alzheimer erkrankt ist. Ihre Arbeit ist ein 24-Stunden-Job, der oft nervenzehrend ist. Zweimal pro Woche konnte Ingrid Ossa sich bisher eine Auszeit nehmen, wenn ihr Mann in der Tagespflege betreut wurde. „Seit Beginn der Corona-Krise fällt das weg, genau wie alle Angebote. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, sagt die Frau aus Linden. Sie ist verzweifelt.

Hilferufe wie dieser von Ingrid Ossa gehen seit den Einschränkungen durch Corona täglich mehrfach bei Jutta Meder von der Alzheimer Gesellschaft Bochum ein. Bis vor wenigen Wochen hatten die meist pflegenden Ehefrauen ihren Alltag gut durchstrukturiert. Mittlerweile bekommen sie keine Hilfe mehr, sind auf sich allein gestellt. „Nun liegt die Verantwortung für eine gute Versorgung der Erkrankten meist ausschließlich auf ihren Schultern. Dadurch geraten Angehörige besonders unter Druck“, mahnt Meder an.

Pflegende Angehörige in Bochum: Seit Februar kaum vor der Tür gewesen

Für den Einkauf, den Besuch beim Arzt oder zum Sport machen hat Ingrid Ossa die beiden Tage, in denen ihr Armin in der Tagespflege gut versorgt wurde, genutzt. Und zum Kraft sammeln. Pflegender Angehöriger zu sein, das bedeutet immer da zu sein: 24 Stunden, jeden Tag. Hilfe bei der Körperpflege, beim Waschen, Rasieren und Ankleiden. Die Medikamentenabgabe, Behördengänge, Verhaltensauffälligkeiten und die emotionale Unterstützung – die Liste der Aufgabe von Ingrid Ossa und anderen pflegenden Angehörigen ist lang. Es ist ein Knochenjob, den die Betroffenen gerne machen, aus Liebe. „Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz sind aber schon in normalen Zeiten hoch belastet“, weiß Jutta Meder.

Ingrid Ossa leidet sehr unter der Situation. Seit Ende Februar ist sie fast gar nicht mehr vor der Tür gewesen, nimmt Schlaftabletten und ist extrem dünnhäutig. Sie kann ihren Mann nicht allein lassen, gleichzeitig kommt kein Besuch: um das Ehepaar zu schützen. Auch die beiden Kinder, die nicht in Bochum wohnen, haben Angst, das Ehepaar anzustecken. Eine Nachbarin übernimmt den Einkauf. „Dafür bin ich natürlich dankbar. Aber ich würde mir einfach mal wieder wünschen, selbst durch den Supermarkt zu gehen“, sagt die 73-Jährige.

"Wir haben keine Möglichkeit mehr, uns Freiräume zu nehmen"

Es sind die kleinen Dinge, die pflegenden Angehörigen in diesen Tagen so viel bedeuten würden. „Früher sind wir zum Beispiel mit sechs Frauen frühstücken gegangen, während die Männer in der Tagespflege versorgt wurden“, erzählt Gudrun Netz (75), die ihren dementen Ehemann Erwin (82) pflegt. „Das geht jetzt alles nicht mehr, weil wir keine Möglichkeiten mehr haben, uns Freiräume zu nehmen“, sagt die Bochumerin, während sie ihrem Mann liebevoll ein Glas Wasser an den Mund hält. Die Tagespflege, in die ihr Mann Erwin gerne dreimal pro Woche ging, fällt weg. Genauso wie der Treff für pflegende Angehörige in der Alzheimer Gesellschaft oder das Demenz-Café. Die Frauen bleiben über Whatsapp in Kontakt, doch den persönlichen Austausch kann das nicht ersetzen.

Jutta Meder fordert, dass sich etwas ändert. „Die Frauen sind einsam, haben meist keine persönlichen sozialen Kontakte mehr. Dabei ist ein gesunder Ausgleich so wichtig, um ein gesundes Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung herzustellen.“ In Bochum gebe es vier Not-Tagespflegen. Für Menschen mit Demenz müsse eine individuelle Lösung entwickelt werden. „Hierzu müssen zum Beispiel die nicht genutzten Gelder, die ausschließlich für die Besuche in Tagespflegen vorgesehen sind, umgewidmet werden“, meint Meder, die seit 1997 bei der Alzheimer Gesellschaft tätig ist. Das Geld könne zum Beispiel als eigenes Pflege- und Betreuungs-Budget zur Verfügung stehen. Von Politik und Pflegekassen wünscht sich Meder andere Finanzierungsquellen.

Forderung: Treffen für pflegende Angehörige sollen zeitnah wieder stattfinden dürfen

Außerdem hofft sie, bald die Erlaubnis zu bekommen, Treffen für pflegende Angehörige und die Betreuung für Demente zeitnah wieder anbieten zu können: „Natürlich in kleinen Gruppen, mit dem notwendigen Abstand.“ Sie will sich nicht ausmalen, wie es weiter geht, wenn bald nichts passiert. Auch Gudrun Netz und Ingrid Ossa hoffen das sehr. „Uns würde ja schon ein Tag pro Woche reichen, an dem wir unsere Männer in die Tagespflege bringen können. Auch wenn es nur zwei oder drei Stunden sind“, sagt Gudrun Netz.

„Der Zustand meines Mannes hat sich in den wenigen Wochen um 30 Prozent verschlechtert“, erzählt Ingrid Ossa. "Mittlerweile schafft er es nicht mehr, allein zum Auto vorzugehen. Das hat vorher noch funktioniert.“ Ihm fehle der Rhythmus, die vertraute Umgebung und auch das Gedächtnistraining, das ihm die Treffen mit anderen Erkrankten geben. Falls nicht bald etwas passiert, sehen Ingrid Ossa und Gudrun Netz schwarz — für ihre Männer und sich selbst.


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