Bochum. Wenn Internet zur Sucht wird – ist Therapie gar nicht so leicht. Denn völlig verzichten: funktioniert nicht. Über das Bochumer Ompris-Projekt.
15 Wörter stecken hinter dem Kürzel „Ompris“ – und eine bemerkenswerte Idee: online Online-Süchtigen zu helfen. „Klingt paradox“, räumt Laura Bottel, Medienpsychologin am Bochumer LWL-Universitätsklinikum, ein. „Aber im Grunde holen wir die Betroffenen nur da ab, wo sie sich aufhalten.“ Wie Streetworker es tun, nur eben im Internet.
Mehr als 800.000 Menschen sind deutschlandweit „von Medienabhängigkeit betroffen“, heißt in einem Infoblatt der Klinik: verloren an die virtuelle Welt von Computerspielen wie World of Warcraft oder League of Legends; süchtig nach Cybersex oder abgetaucht in sogenannte soziale Medien wie Facebook und Instagram. Andere klickten sich atemlos von Video zu Video auf YouTube, zunehmend mehr könnten von exzessiver Informationsrecherche im Netz nicht lassen, erläutert Bottel. 14 Stunden und mehr verbringen Online-Süchtige im schlimmsten Fall täglich im Internet, an ihrem PC, Laptop oder Smartphone. Sie vernachlässigen darüber irgendwann nicht nur echte Kontakte in der realen Welt, Alltag, Schule oder Arbeit; einige vergessen sogar zu essen oder sich zu waschen; viele entwickeln Depressionen, Ängste, Verhaltensstörungen. Bottel hatte es einmal mit einem 29 Jahre alten „Gamer“ zu tun, der sich nicht einmal mehr in den eigenen Keller traute, wo seine Waschmaschine stand – aus Furcht, im Treppenhaus einem anderen Menschen zu begegnen.
Niedrigschwelliges Angebot: kostenlos für alle Teilnehmer
„Ompris“ will helfen, bevor es zu spät ist. Ermuntert auch durch die Tatsache, dass die Weltgesundheitsbehörde 2019 Computerspielsucht offiziell als Krankheit, als psychische Störung, anerkannte, wie der wissenschaftliche Leiter, Dr. Jan Dieris-Hirche, erklärte bei der Vorstellung des Forschungsprojekts – dessen vollständiger Name mehr als nur ein wenig sperrig klingt: „Onlinebasiertes Motivationsprogramm zur Reduktion des problematischen Medienkonsums und Stärkung der Veränderungsmotivation bei Computerspielabhängigkeit und Internetsucht“. Dieris-Hirche leitet die Medienambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum. Laura Bottel ist als seine wissenschaftliche Mitarbeiterin mit zuständig fürs Ompris-Management und gleichzeitig eine der Beraterinnen. Man wolle, sagt sie, „ein niedrigschwelliges Angebot schaffen, Barrieren abbauen und eine Versorgungslücke schließen“.
Vier Monate Wartezeit auf Therapieplatz
Denn auch wenn das Problembewusstsein wachse, seien Therapieangebote vor allem auf dem Land noch immer rar. Betroffene landeten daher oft erst spät und mit hohem Leidensdruck in einer spezialisierten Klinik. Selbst im Ruhrgebiet muss in Zeiten von Corona ein Computerspiel-Abhängiger derzeit bis zu vier Monate warten, bevor er in die ambulante Therapiegruppe der Bochumer Klinik aufgenommen werden kann...
Die Aufbauphase von Ompris ist beendet; erste Anmeldungen Interessierter liegen bereits vor; Ende August / Anfang September wird es richtig losgehen. Das Projekt richtet sich an alle „Menschen mit problematischem Medienkonsum“. Die Teilnehmer erwartet ein vierwöchiges Programm, das für sie kostenlos ist, aber „Zeit und Kraft“ erfordere, so Bottel. „Per Webcam werden wir an Reflektion und Reduzierung der Internetnutzung arbeiten.“ Zweimal pro Woche stehen knapp einstündige, persönliche Beratungsgespräche an, aber es würden auch kleinere Hausaufgaben zu erledigen sein. Erster Schritt ist ein Selbsttest, in dem es um die individuelle Situation und den persönlichen Leidensdruck geht. Nach und nach sollen die Betroffenen dann lernen, Alltagsstrukturen zu verändern, sich Stück für Stück medienfreie Zeiten zu schaffen – und Alternativen dafür zu finden. „Was vielen sehr schwer fällt“, erläutert Bottel. „Denn nach all den Jahren im Internet wissen viele nicht einmal mehr, was ihnen früher Spaß gemacht hat.“
„Wir wollen eine Brücke bauen, von der digitalen in die analoge Welt“
Am Ende sollen Erlerntes und Motivation gefestigt sein, Rückfälle in alte Verhaltensmuster so verhindert werden. „Wir hoffen, dass wir mit möglichst vielen die ersten Schritte in Richtung gesunder Mediennutzung gehen werden“, ergänzt Bottel. „Aber uns ist natürlich klar, das unser Projekt Menschen mit einer bereits manifesten Sucht nicht reichen wird.“ Weshalb solchen Teilnehmern in der letzten Woche konkrete Anlaufstellen an ihrem jeweiligen Wohnort genannt würden und sie in geeignete Therapien vermittelt würden – im Revier in das betreute Wohnen für Internetsüchtige von „Auxilium Reloaded“ in Dortmund beispielsweise. „Wir wollen“, betont Bottel, „mit Ompris auch eine Brücke bauen von der digitalen in die analoge Welt.“
Internetsüchtigen das Internet komplett zu verbieten, ist dabei weder Anliegen noch möglich. „Verteufeln“ möchte die Expertin nicht einmal das Online-Computerspielen an sich, sie hat es selbst ja schon getan. „Es geht immer nur um die Balance. Wem es Spaß macht und wer daneben noch ein reales Leben hat, für den ist es völlig okay.“ Wer sich jedoch verliert im weltweiten Netz, dem helfe vielleicht „Abstinenz von Applikationen, die Suchtverhalten provozieren“. Was konkret bedeuten könnte: Streamen ja, WoW nein.
Anmeldungen für das Projekt werden bereits entgegen genommen. Interessierte werden dann informiert, wenn der Selbsttest als erster Schritt ins Programm, online ist.Info und Anmeldung: www.onlinesucht-hilfe.com
>>>> Zahlen und Fakten
Das Projekt läuft über drei Jahre, bis Ende 2022, und wird wissenschaftlich begleitet. Der Innovationsfonds Deutschland fördert Ompris mit 1,35 Millionen Euro. Die Federführung hat das LWL-Klinikum in Bochum. Sieben Projektpartner sind insgesamt beteiligt, darunter die Klinik Kloster Dießen. Chefarzt dort ist Bert te Wildt, Begründer und bis 2018 Leiter der Bochumer Medienambulanz.
In der Mediensprechstunde der Ambulanz stellten sich seit 2012 mehrere hundert Patienten vor, allein in diesem Jahr kamen schon 55. Auch das stationäre „Setting für Internet-bezogene Störungen“ an der Klinik wird derzeit ausgebaut.
Die bisher wichtigste Studie zum Thema, die Pinta-Studie des Bundesministeriums für Gesundheit, zeigte schon 2011, dass deutschlandweit etwa 550.000 Menschen im Alter zwischen 14 und 64 Jahren von einer Internetsucht betroffen sind: 1,5 Prozent. Männer und Frauen übrigens gleichermaßen.