Hagen/Siegen. Verhandlung gegen Stiefvater, der Mädchen geschwängert haben soll, startet in Siegen. Warum Verteidiger „kein faires Verfahren“ sieht.

Es ist einer der aufsehenerregendsten Fälle der vergangenen Jahre: Eine Elfjährige wird Mutter, ein Kind bringt ein Kind zur Welt, Vater des Babys ist der Stiefvater der Kindsmutter. Ein Familiendrama aus Siegen-Wittgenstein, das nun vor dem Landgericht Siegen verhandelt wird.

Am Dienstagnachmittag startet der Prozess gegen den Stiefvater des heute zwölfjährigen Mädchens. Es ist ein Verfahren unter komplizierten Bedingungen, das mit vielen Unklarheiten sowie juristischen Tücken aufwartet und über das Daniel Nierenz, der Verteidiger des Angeklagten, sagt: „Mit einem fairen Verfahren im Sinne einer Ausschöpfung aller Beweismittel hat das unter diesen Umständen nichts zu tun.“

Diese Fragen stellen sich kurz vor dem Prozessstart:

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Was wird dem Angeklagten vorgeworfen?

Die Staatsanwaltschaft Siegen wirft dem Angeklagten, der seit Anfang Oktober in Untersuchungshaft sitzt, neun Vergehen vor, die sich zwischen 2020 und 2023 abgespielt haben sollen.

Bei vier mutmaßlichen Taten geht es um den Vorwurf, sexuelle Handlungen an einem Kind vorgenommen zu haben. In einem dieser Fälle wird dem 38-Jährigen zusätzlich die Herstellung kinderpornografischer Schriften zur Last gelegt. Der Angeklagte soll das Mädchen mit der Zunge geküsst haben und davon 33 Fotos aufgenommen haben. Auch in den anderen drei Fällen soll es darum gehen, dass der Angeklagte das Mädchen geküsst haben soll. Die Fotos sollen auf einem Handy gefunden worden sein, das nicht dem Angeklagten gehören soll.

Die weiteren fünf mutmaßlichen Taten betreffen den Vorwurf, Geschlechtsverkehr mit einem Kind gehabt zu haben, wobei der letzte angeklagte Fall zu der Schwangerschaft der damals Elfjährigen geführt haben soll. Dies sei die finale der angeklagten Taten, so eine Sprecherin des Landgerichts Siegen.

Dem Angeklagten, der die Vorwürfe bestreitet, droht eine Strafe von nicht weniger als zwei Jahren und bis maximal 15 Jahren Haft.

Daniel Nierenz (links) ist Anwalt aus Netphen.

„Nach derzeitigem Stand wird sich mein Mandant auf den Rat seines Verteidigers nicht zu den Vorwürfen äußern. Hier gilt die juristische Weisheit: Wer nichts sagt, sagt auch nichts Falsches.“

Daniel Nierenz
Anwalt des angeklagten Stiefvaters

Wird der Angeklagte aussagen?

Für den ersten Verhandlungstag am Dienstag ist zunächst die Verlesung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft geplant. Danach erhält der Angeklagte die Möglichkeit, sich zu den Vorwürfen zu äußern.

„Nach derzeitigem Stand wird sich mein Mandant auf den Rat seines Verteidigers nicht zu den Vorwürfen äußern. Hier gilt die juristische Weisheit: Wer nichts sagt, sagt auch nichts Falsches“, erklärt Daniel Nierenz, Verteidiger aus Netphen im Siegerland, im Gespräch mit der Westfalenpost.

Wird das Mädchen aussagen?

Laut Landgericht Siegen ist eine Befragung des Mädchens für den zweiten Verhandlungstag am 23. Januar vorgesehen. Weil das Mädchen aber mit dem angeklagten Stiefvater verschwägert ist, steht der Zwölfjährigen ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Ob sie die Aussage verweigert, ist unklar. Der Kreis Siegen-Wittgenstein, der das Mädchen (und das Baby) aus der Familie genommen hat und Vormund ist, äußert sich unter Verweis auf die „besonders schutzwürdigen Interessen des noch sehr jungen Mädchens“ weder zu dieser noch zu anderen Fragen.

Daher ist auch unklar, ob das Mädchen an der Verhandlung teilnimmt. Die Zwölfjährige ist nicht nur Zeugin, sondern in dem Verfahren als mutmaßliches Opfer auch Nebenklägerin (bzw. der Kreis als ihr Vormund). Das bestätigt das Landgericht Siegen. Als Nebenklägerin muss das Mädchen nicht persönlich an der Verhandlung teilnehmen. Bliebe sie dem Prozess fern und verweigere die Aussage, könnte das gravierende Auswirkungen auf das Verfahren haben.

Angesetzt sind für den Prozess vor dem Landgericht Siegen sechs Verhandlungstage, der Urteilsspruch ist für den 18. Februar geplant.
Angesetzt sind für den Prozess vor dem Landgericht Siegen sechs Verhandlungstage, der Urteilsspruch ist für den 18. Februar geplant. © Coralie Soemer | Coralie Soemer

Was passiert, sollte das Mädchen schweigen?

Die Zwölfjährige gilt als Hauptbelastungszeugin. Sollte sie sich nicht in dem Prozess äußern, darf ihre Aussage aus dem Ermittlungsverfahren, in dem sie ihren Stiefvater beschuldigt haben soll, im vorliegenden Fall nicht vor Gericht verwertet werden. Auch dürften die Polizeibeamten, welche das Mädchen vernommen haben, nicht als Zeugen in der Hauptverhandlung über den Inhalt der Befragungen Auskunft erteilen.

Ob der Anklage in diesem Szenario das Scheitern drohe, komme darauf an, welche sonstigen Beweismittel vorhanden seien, sagt Prof. Dr. Michael Heghmanns von der Universität Münster. Möglich aber, dass im vorliegenden Fall bei einem Schweigen des Mädchens „die Anklage verloren wäre“, so der ehemalige Staatsanwalt und Richter.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Verteidiger Daniel Nierenz zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Mädchens. Die Zwölfjährige soll zunächst ausgesagt haben, dass sie sich mit einem gebrauchten Kondom des Stiefvaters, in den sie verliebt gewesen sei, ohne dessen Wissen selbst geschwängert habe. Später soll sie diese Aussage geändert und ihren Stiefvater belastet haben.

„Das war eine Suggestivbefragung der vernehmenden Beamten, sie haben dem Mädchen eine Aussage in den Mund gelegt. Zudem ist der Beamte, der die Befragung hauptsächlich durchgeführt hat, kein ausgewiesener Experte für Sexualdelikte“, sagt Verteidiger Nierenz. Die Staatsanwaltschaft weist den Vorwurf, dass die Ermittler dem Mädchen Worte in den Mund gelegt hätten, zurück.

Prof. Dr. Michael Heghmanns, Universität Münster, Institut für Kriminalwissenschaften Abt. II, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medienstrafrecht und Strafvollzugsrecht

„Würde das Mädchen die Aussage in der Hauptverhandlung verweigern, wäre die Anklage möglicherweise verloren.“

Prof. Dr. Michael Heghmanns
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der Uni Münster

Wie das Landgericht Siegen bestätigt, hat die zuständige Kammer im Vorfeld des Prozesses versucht, ein aussagepsychologisches Gutachten über das Mädchen erstellen zu lassen. Aber „die Geschädigte hat daran nicht teilgenommen“, so das Gericht.

Eine Diplom-Psychologin soll ab dem zweiten Verhandlungstag an dem Prozess teilnehmen, um dann am fünften Verhandlungstag auf Grundlage des Prozessverlaufs ein aussagepsychologisches Gutachten vorzustellen. „Das wird aber auch davon abhängen, ob die Geschädigte eine Aussage macht oder nicht“, erklärt das Gericht.

Wie Experte Heghmanns erklärt, kann die Verteidigung in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag stellen, um die Zeugin begutachten zu lassen. Gebe das Gericht diesem Antrag statt, würde man versuchen, dass sich ein Sachverständiger zwischen den Verhandlungstagen mit dem Mädchen zusammensetze. „Sollte die Verteidigung einen solchen Beweisantrag stellen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Kammer diesen rechtsfehlerfrei ablehnen kann und ohne eine gutachterliche Untersuchung des Mädchens den Fall entscheidet“, so Heghmanns. Laut Landgericht Siegen wäre aber auch hier eine Mitwirkung des Mädchens an der Begutachtung freiwillig.

Worauf stützt sich die Anklage noch?

Neben der Aussage des Mädchens stützt sich die Anklage vor allem auf einen DNA-Abgleich, der ergeben hat, dass der Stiefvater des Mädchens der biologische Vater des Babys ist.

Zudem hat die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die „Kondom-Theorie“ als äußerst unwahrscheinlich, aber auch nicht als ausgeschlossen einstufen soll. Als Sachverständige ist Prof. Dr. Sibylle Banaschak vom Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln für den Verhandlungstag am 31. Januar geladen.

Des Weiteren können – anders als möglicherweise die Polizeibeamten, welche das Mädchen vernommen haben – beispielsweise Ärzte oder Betreuer als Zeugen vor Gericht aussagen, was ihnen das Mädchen berichtet hat. Dies verhindere das Zeugnisverweigerungsrecht nicht. „Auch andere Beweismittel sind durch die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht ausgeschlossen, beispielsweise Erkenntnisse, die bei der Auswertung von Mobiltelefonen gewonnen wurden“, erklärt das Landgericht Siegen.

Mutter und ältere Schwester des Mädchens sind als Zeugen für den dritten Verhandlungstag am 27. Januar geladen, haben allerdings ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Prof. Dr. Michael Heghmanns vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster.

„Eine Vernehmung in Abwesenheit, also per Video, hat keine Auswirkungen für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Mädchens. Ebenso wenig eine Vernehmung allein durch die Vorsitzende Richterin. Damit muss sich die Verteidigung abfinden im Interesse des Schutzes des Kindes.“

Prof. Dr. Michael Heghmanns
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der Uni Münster

Wie könnte das Verfahren ablaufen?

Angesetzt sind sechs Verhandlungstage, der Urteilsspruch ist für den 18. Februar geplant.

Weil der Angeklagte erwachsen ist, findet die Verhandlung gegen ihn grundsätzlich öffentlich statt. Weil das mutmaßliche Opfer aber noch ein Kind ist, könnten für entscheidende Teile des Prozesses Öffentlichkeit und Medien ausgeschlossen werden, etwa bei einer Aussage des Mädchens, bei den Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Nebenklagevertreterin oder bei der Urteilsverkündung.

Sollte das Mädchen aussagen, könnten auch hier spezielle Bedingungen herrschen. Wahrscheinlich dürfte Verteidiger Nierenz (oder auch die Staatsanwaltschaft) das Mädchen nicht selbst befragen, sondern müsste seine Fragen an die Zwölfjährige über die Vorsitzende Richterin stellen (lassen).

Denkbar wäre als weitere Schutzmaßnahme auch eine Befragung des Mädchens per Videoschalte. Das Mädchen könnte dann aus einem Nebenraum oder auch von außerhalb des Gerichts zugeschaltet werden. „Eine Vernehmung in Abwesenheit, also per Video, hat keine Auswirkungen für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Mädchens. Ebenso wenig eine Vernehmung allein durch die Vorsitzende Richterin. Damit muss sich die Verteidigung abfinden im Interesse des Schutzes des Kindes“, sagt Heghmanns.

Daniel Nierenz (links) ist Anwalt aus Netphen.

„Falls die Kindsmutter die Aussage verweigert, kann ich ihre belastende Aussage aus dem Ermittlungsverfahren nicht überprüfen.“

Daniel Nierenz
Anwalt des angeklagten Stiefvaters

Was kritisiert der Verteidiger?

Daniel Nierenz bezeichnet die Ausgangslage aufgrund der möglichen Bedingungen des Verfahrens als „unglücklich“ für die Verteidigung seines Mandanten. „Bestimmte Beweismittel bleiben verschlossen, Aspekte, die relevant sind, bleiben dem Gericht verwehrt“, so der Anwalt, der die Schuld dafür allerdings nicht dem Gericht gibt.

„Falls die Kindsmutter die Aussage verweigert, kann ich ihre belastende Aussage aus dem Ermittlungsverfahren nicht überprüfen“, sagt der Verteidiger. Und weiter: „Bislang maßgeblicher Beweis ist, dass das Baby von meinem Mandanten abstammt. Dass sich das Mädchen mittels des gebrauchten Kondoms selbst geschwängert hat, ist der einzige Zweifel, den ich anbringen kann. Ansonsten kann ich wenig tun, falls das Mädchen die Aussage verweigert.“

Sein Mandant habe dem DNA-Abgleich zur Ermittlung des biologischen Vaters des Babys zugestimmt. Das spreche für den Angeklagten. „Warum hätte er das tun sollen, wenn er nicht von seiner Unschuld überzeugt wäre“, sagt Nierenz.

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