Gelsenkirchen. In Einsamkeit gestorben in Gelsenkirchen: Marcell Engel und sein Team haben an 18.000 Leichenfundorten die Reste beseitigt. Sein bitteres Fazit.
- Bitteres Fazit eines Tatortreinigers: „Wir sind der Abfalleimer von akuten Gesellschaftsproblemen“
- Marcell Engel und sein Team haben in 28 Jahren an gut 18.000 Fundorten die Reste von Leichen beseitigt
- Gefährlich: Dramatische Zunahme von Sterbefällen in Einsamkeit, Suizidzahl explodiert
- Leichenfunde: Krampfhafte Erklärungsversuche der Nachbarn wegen langer Untätigkeit und Ignoranz
Der Leichenfund in Bismarck legt ein erschütterndes Zeugnis von Isolation und Einsamkeit ab. Er ist kein seltener Einzelfall. 2009 fand ein Handwerker eine bereits mumifizierte Leiche in einer Wohnung in Gelsenkirchen-Feldmark. Die Nachbarn waren anscheinend seit Jahren davon ausgegangen, dass die Souterrainwohnung unbewohnt war. In Berlin lag ein Rentner sogar zehn Jahre in seiner Tiefkühltruhe – und niemand hat ihn vermisst. Solche und viele weitere Geschichten werfen die Frage auf, ob ältere Menschen zunehmend vereinsamen, sterben – und die Gesellschaft sich nicht genügend kümmert.
Tatortreiniger Marcell Engel: Sind der „Abfalleimer von Gesellschaftsproblemen“
„Es trifft vor allem arme und verwahrloste Personen, und es werden mehr, viel mehr“, sagt Tatortreiniger Marcell Engel. Der 49-Jährige ist Geschäftsführer der Reinigungsfirma „Akut SOS Clean“ mit 70 Anlaufstellen in ganz Deutschland – unter anderem in Gelsenkirchen –, die sich neben klassischer Desinfektion, Geruchsneutralisation und Schädlingsbekämpfung zusätzlich noch auf Tatortreinigung spezialisiert hat.
In 28 Jahren haben Engel und sein Team nach eigenen Angaben 18.000 Leichenfundorte professionell wieder auf Vordermann gebracht. Ihre interne Statistik weist erschreckende Trends auf. „Bei den Einsamkeitsfällen haben die Fallzahlen um 85 Prozent zugenommen, bei den Suizidfällen sind es sogar 600 Prozent“, sagt der Tatortreiniger. Lockdowns und Corona-Pandemie hätten dabei wie Brandbeschleuniger gewirkt. „Menschen, die da bereits auf der Kippe standen, haben danach komplett den Halt verloren.“
Gewissensbisse: Krampfhafte Versuche, die eigene Untätigkeit zu erklären
Für Engel hängt diese fürchterliche Entwicklung mit „einem dramatischen Werteverfall“ zusammen. Ihm zufolge sind unserer Gesellschaft die Empathie, also das Einfühlungsvermögen, und das Gefühl für das Miteinander verloren gegangen. Wenn er eine Leichenwohnung reinigt, stehen regelmäßig Nachbarn oder auch Verwandte auf der Matte – mit krampfhaften Versuchen einer Entschuldigung dafür, warum sie nichts bemerkt haben, warum ihnen nichts aufgefallen ist –, für Engel ein verzweifelter, letzter Ausschlag ihres verloren gegangenen Moralkompasses.
„Ich höre dann immer wieder, dass sie die Verstorbenen über die sozialen Netzwerke anschreiben, ihnen eine SMS oder Whatsapp-Nachricht schicken. Wenn ich sie dann frage, wie lange sie den Menschen schon nicht mehr gesehen haben oder wie lange sie den eigentümlichen Verwesungsgeruch schon bemerkt haben, sind es oft Wochen oder Monate. Auf die Idee, einfach mal anzuklingeln oder anzurufen, sie auf einen Kaffee einzuladen, kommen die wenigsten. Stattdessen werden im Flur Räucherkerzen aufgestellt.“ Mehr Distanz und Desinteresse gehe kaum noch.
Sucht (Alkohol, Drogen), Messi-Erkrankungen, Schicksalsschläge, Trennungen und vielfach Armut sind laut Engel Einflussgrößen, die Menschen in die Isolation treiben. Am dringendsten aber fehle ihnen jemand zum Reden, zum Zuhören, jemand, der sie mal in den Arm nehme, auf die Schulter klopfe. „Denn keiner will freiwillig so leben“, ist der 1,98-Meter-Hüne felsenfest überzeugt. „Der flüchtige Small-Talk mit den Nachbarn übers Wetter beim Müll-Runtertragen oder am Briefkasten kann echte Empathie einfach nicht ersetzen. Folge: Sie geben auf, haben keine Kraft mehr, verlieren sich im Strudel ihrer Abstiegsspirale.“ Seinen Berufsstand nennt er deshalb den „Abfalleimer für akute Gesellschaftsprobleme“.
Tod in Einsamkeit spielt in anderen Ländern kaum eine Rolle – Wertschätzung Älterer
Marcell Engel hat über die knapp drei Jahrzehnte ein Netzwerk mit anderen Tatortreinigern aus aller Welt gespannt. Mit den Kolleginnen und Kollegen tausche er sich regelmäßig aus. Der Tod in der Einsamkeit, so habe er festgestellt, spiele andernorts „überhaupt oder so gut wie keine Rolle“. Beispielsweise in asiatischen oder vielen Mittelmeerländern – „da erfahren ältere Menschen eine hohe Wertschätzung“. Insofern müsse man hier in Deutschland von einem Erdrutsch in unserer Wertewelt reden.
Neben seiner Firmenzentrale in Frankfurt ist eine Aldi-Filiale. Viele Kundinnen und Kunden kennt der Tatortreiniger seit Jahren, hat ihr Älterwerden mitverfolgt, wie er erzählt – sie werden schmaler, gebrechlicher, irgendwann sind Gehstock oder Rollator ihre ständigen Begleiter. „Wenn ich sie anspreche und sage, ,Mensch, Sie kenne ich doch auch schon seit Jahren’, und frage, ,wie geht es Ihnen denn, was machen Sie, kommen Sie klar?’, dann blühen sie regelrecht auf“, berichtet der 49-Jährige über seine Art, der Isolation entgegenzutreten – mit geschenkter Zeit für andere. Er glaubt: Mit wenig Aufwand ließe sich so etwas Positives bewirken. Tod in der Einsamkeit – auf solche Aufträge würde Engel „liebend gern verzichten“.
Leichenfund: So sieht die Arbeit eines Tatortreinigers aus
Für die Tatortreiniger beginnt die Arbeit, sobald die Leiche abgeholt und ihnen der Auftrag erteilt worden ist. Zunächst müssen sie den Ort des Geschehens mit einer Scheuer- und Wischdesinfektion behandeln. Reinigung mit starken Peroxiden, Schädlingsbekämpfung (unter anderem Speckkäfer), Auftragen von speziellen Geruchsneutralisationsmitteln – all das gehört dazu. Geschützt sind sie in der kontaminierten Umgebung mit speziellen Anzügen und Atemschutzmasken. Dabei ist vor allem die Geruchsneutralisation „eine echte Kunst für sich“, wie Engel es formuliert. Der süßliche Leichengeruch verteile sich überall im Raum, krieche geradezu in alle Wände und Decken.