Oberhausen. Für die Ludwiggalerie wählte Revier-Fotograf Manfred Vollmer erstmals 70 monumentale Formate aus seinem gesamten Reporterleben.
Monumental sind bei Manfred Vollmer nicht die Stadtbilder oder Stahlwerks-Silhouetten. Monumental ist der Blick des 78-jährigen Fotoreporters auf die Menschen: sei es der Bergmann am Ende seiner Schicht auf General Blumenthal in Recklinghausen oder der verzückt die Blutreliquie des Heiligen Gennaro küssende Wundergläubige in Neapel. Dafür gebührt jedem Bild dasselbe Großformat – und so präsentiert die zart geschwungene Panoramagalerie im Schloss Oberhausen nun eine monumentale Werkschau.
Ausstellungen hatte der im badischen Emmendingen aufgewachsene, in Essen heimische Fotograf schon etliche. Doch es war noch keine so umfassende Retrospektive dabei, die ein ganzes Reporterleben in 70 – von Manfred Vollmer selbst ausgewählte und eigens für die Ausstellung produzierte – Aufnahmen bündelt. Und da gibt es weit mehr zu entdecken, als jene inzwischen ikonischen Bilder von den großen Protestzügen zwischen Duisburg und Hattingen, die eben weit mehr waren als Arbeitskämpfe. Sondern das letzte Aufbäumen einer von der Schwerindustrie geprägten, aus ihr Stolz schöpfenden Lebensart.
„Mein Revier ist das Revier“, ist so ein schlichter wie treffender Vollmer-Satz, dem längst Flügel gewachsen sind. Und natürlich steht er, quasi als Lebensmotto, in der Ausstellung über dem Textbanner einer knapp umrissenen Reporter-Biografie. Die spricht jedoch viel beredter aus den Bildern aus sechs Jahrzehnten. Schon die Abschlussarbeit an der Folkwang Hochschule war schließlich eine packende Reportage: Der 25-Jährige war nach Süditalien gereist – als die religiöse Ekstase um den kurz zuvor gestorbenen Padre Pio gerade der Hysterie zustrebte.
Vergessene Kapitel bundesdeutscher Geschichte
Manfred Vollmer fotografierte blutbespritzte Flagellanten in Kalabrien und einen mit Schlangen behangenen Priester in den Abruzzen. Er öffnet den Blick für die archaisch-dunkle Seite des Katholizismus – aber er denunziert nicht die Gläubigkeit der Abgebildeten, wie jener alten Frauen in Apulien, die mit großen Augen auf eine nächtliche Wallfahrt blicken. Diese Examensarbeit brachte dem Schüler des gestrengen Otto Steinert – der seinem Lehrer noch ein halbes Jahrhundert später für „seine kompromisslose Art“ dankbar ist – den Folkwangpreis 1970. Eigentlich war Manfred Vollmer damit etabliert als Freelancer von Format.
Es war eine goldene Ära des Fotojournalismus, als Magazine wie Stern und Geo gut zahlten für üppige Bilderstrecken – und zugleich dem Reporter mit der Kamera genügend von jener Zeit gaben, die es für den besonders intensiven Blick braucht. Vollmer lässt, verdichtet auf wenigen Bildern, längst vergessene Kapitel bundesdeutscher Geschichte wieder lebendig werden: etwa den „Exodus aus Duisburg-Hüttenheim“, als türkische Familien sich gegen eine Prämie verpflichteten, innerhalb von vier Wochen „heimzukehren“. Mit dem Fotografen blickt man in eilends leergeräumte Wohnungen – und auf Straßen voller aussortierter Möbel.
„Repräsentativ“ wird erst die Kulturhauptstadt
Manfred Vollmer zeigt die vermeintlich kleinen Revierbürger gerne ganz groß. Und er bannt jene Momente, in denen die vermeintlich Großen sich wegducken – wie Krupp-Manager Gerhard Cromme, der Eierwürfen ausweichen musste. Aus einer politischen Alltagssituation macht der Fotograf 1978 ein ikonisches Bild des „deutschen Herbstes“: Kanzler Helmut Schmidt steigt nach einer Rede in den Fond des wartenden Wagens – doch die Aufnahme dominiert der eine Maschinenpistole hochreckende Polizist.
„Repräsentativ“, wenn man so will, wurde die Bilderwelt des Revier-Chronisten erst, als der Pott den Kulturhauptstadt-Weihen entgegensah – und Vollmer schweren Herzens von analog auf digital umgestiegen war: Da funkeln die Spiegelungen auf den vielen goldglänzenden Fenstern des Zollverein-Neubaus, kracht und böllert das 2010er Feuerwerk fast hörbar über dem Scherenschnitt des Förderturms und klatschen schicke junge Frauen strahlend beim „Day of Song“ im Aalto-Theater.
Der verzweifelte Kampf gegen die Ölfluten
Dass dieser Farbenpracht im Kabinett des Kleinen Schlosses die bis heute fast apokalyptisch wirkenden Szenen vom verzweifelten Kampf der Bretonen gegen die Ölfluten der „Amoco Cadiz“ gegenüberstehen – es gibt dem Ausstellungstitel „ausgelöst“ noch eine nachdrückliche, weitere Bedeutung.
Ein Reporterleben im Buch und im Gespräch
„Ausgelöst“, die Ausstellung mit 70 großformatigen Fotografien Manfred Vollmers von 1968 bis heute, ist vom 5. Februar bis 15. Mai in der Panoramagalerie sowie im Kabinett des Kleinen Schlosses zu sehen – also links und rechts vom Museumsshop. Auf eine Vernissage muss die Ludwiggalerie pandemiebedingt verzichten. Der Eintritt ist frei.Den Katalog, 120 Seiten stark, erschienen im Kerber Verlag, gibt’s für 29,80 Euro. Die monumentale Wirkung der großformatigen Abzüge in der Ausstellung kann der schön gestaltete Band allerdings nicht erreichen.Manfred Vollmer selbst erzählt von seinem Reporterleben am Sonntag, 13. März, um 15 Uhr im Gespräch mit Christine Vogt, der Direktorin der Ludwiggalerie.