Mülheim. Unfassbar: Yasin Sirin aus Mülheim ist noch nie einen Marathon gelaufen – bis er bei einem der härtesten der Welt mitmacht. Wie schafft man das?

Yasin Sirin ist in seinem Leben noch nie einen Marathon gelaufen. Bis der Mülheimer auf einmal darüber nachdenkt, bei einem der härtesten Extremläufe der Welt mitzumachen. Beim „Marathon des Sables“ geht es rund 250 Kilometer quer durch die marokkanische Wüste – in sieben Tagen. Meist eher wandernd als laufend. „Ich konnte davor nicht mal drei Kilometer am Stück joggen. Alle haben gedacht, ich spinne“, gesteht der 32-Jährige.

Er ist zwar sportinteressiert, spielt mal Fußball, macht mal Selbstverteidigung und stemmt im Fitnessstudio ein paar Gewichte. „Aber ich war nie ein Läufer und von dem Wüstenmarathon hatte ich auch noch nie gehört, bis mich ein ehemaliger Uni-Kollege anrief und mir davon erzählte.“

Ein Jahr lang bereitet Yasin Sirin sich akribisch auf den Wüsten-Marathon vor

Nach diesem Telefonat ist seine Neugierde geweckt. Er fängt an zu recherchieren, liest sich ein und findet heraus, dass bisher eine einzige Deutsche den Marathon gewonnen hat, an dem Top-Athleten aus aller Welt teilnehmen. „Das ist Anke Molkenthin. Ich habe sie angeschrieben und um ihre Hilfe gebeten, weil ich ja überhaupt keine Ahnung hatte, was da auf mich zukommt“, sagt Sirin.

Gemeinsam erarbeiten sie einen Sportplan, der jede Woche wechselt. Ein Jahr lang trainiert Sirin an sechs von sieben Tagen. Mal läuft er durch die Berge an der Mosel. Mal rennt er von Mülheim zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Jeden Tag wird er besser, jeden Tag steigert sich seine Motivation. Später schafft er sogar hundert Kilometer pro Woche.

Jeder muss eigene Verpflegung und Schlafsachen durch die Wüste schleppen

Aber nicht nur das Training ist wichtig zur Vorbereitung. Auch das Essen muss geplant werden. Denn beim Wüstenmarathon muss sich jeder selbst um seine Verpflegung kümmern. Und nicht nur das – auch das Equipment wie eine aufblasbare Schlafmatte, einen Schlafsack und einen Topf muss jeder selbst durch die Wüste schleppen. „Alle hatten nur einen winzigen Rucksack mit dem Allernötigsten dabei, der für diese sieben Tage unser Zuhause bedeutete.“

So sah das Equipment aus, das Yasin Sirin in einem kleinen Rucksack durch die ganze Wüste getragen hat.
So sah das Equipment aus, das Yasin Sirin in einem kleinen Rucksack durch die ganze Wüste getragen hat. © Unbekannt | Yasin Sirin

Weil jedes Gramm Gewicht zählt, wiegt Sirin alles ab. Die haltbaren Mahlzeiten und Snacks packt er in Plastikbeuteln ab: Von getrockneter Mango über Pistazien bis hin zu Spaghetti Bolognese zum Aufwärmen. „Ich habe mir sogar ein paar Haribos mitgenommen und löslichen Kaffee. Das war immer mein Highlight“, sagt der Mülheimer und grinst. Am Ende wiegt sein Rucksack 12 Kilogramm.

Als er nach einem Jahr in Marokko landet, bekommt er einen Schock

Zwei Tage vor dem Marathon fliegt er nach Marokko. Er ist perfekt vorbereitet, fühlt sich fantastisch und stellt sich vor, wie es wohl sein wird, nach einer Woche durch das Ziel zu laufen. Bis ihn plötzlich der Schock aus den Gedanken reißt: Sein Gepäck ist nicht angekommen. Ohne Rucksack kann er nicht mitlaufen. Geknickt fährt er zum Hotel und kann sein Pech nicht fassen. Nach einem Jahr Vorbereitung steht seine Teilnahme auf dem Spiel.

Erst am nächsten Tag kann er aufatmen: Der Koffer ist nachgeliefert worden – „zum Glück!“ Denn wenig später geht es auch schon los. In kleinen Bussen fahren rund 1000 Teilnehmer aus 50 Nationen in die Wüste. Die Nervosität liegt in der Luft. Bis zum Start weiß niemand, wie die Route aussehen wird. Denn die Strecke des Marathons wird jedes Jahr verändert. Erst kurz davor bekommt jeder eine Landkarte mit den einzelnen Stationen. „Jetzt wird es ernst“, denkt Sirin.

Am Tag schwitzen die Teilnehmer bei 45 Grad, am Abend frieren sie bei 4 Grad

Als der Marathon startet, läuft „Highway to Hell.“ Am ersten Tag marschieren die Teilnehmer 30 Kilometer. Die Tages-Etappen sind in unterschiedliche Checkpoints eingeteilt. An jeder dieser Stationen wird Wasser verteilt. Das ist das Einzige, was nicht mitgeschleppt werden muss. Es geht die Dünen hoch und wieder herunter, durch getrocknete Flussbetten, über steinige Berge und Schotter. „Man stellt sich die Wüste immer nur voller Sand vor. Aber es gibt ganz unterschiedliche Landschaften“, weiß Sirin jetzt.

Tagsüber schwitzen die Teilnehmer bei 45 Grad in der prallen Sonne. Nachts frieren sie bei 4 Grad unter freiem Himmel. Es werden zwar große Zelte vom Veranstalter aufgebaut, in denen die Läufer schlafen. „Aber die sind offen, so dass es permanenten Durchzug gibt und der ganze Sand hereinfliegt.“ Als Sirin am ersten Abend den Sternenhimmel im dicken Pullover betrachtet, ist er überglücklich. „Wenn es so weitergeht wie heute, kann ich den Marathon locker schaffen“, denkt er.

Eine Etappe besteht aus einem Nachtlauf – 36 Stunden am Stück ist Sirin unterwegs

Zur Unterstützung hat Sirin zwei Wanderstöcke dabei. Sie helfen ihm, die Tour durchzustehen.
Zur Unterstützung hat Sirin zwei Wanderstöcke dabei. Sie helfen ihm, die Tour durchzustehen. © Unbekannt | Marathon les sables

Doch am zweiten Tag ist er sich da nicht mehr so sicher. Von jetzt auf gleich zieht ein Sturm auf. Während er sich vorwärts kämpft, atmet er ein Sandkorn nach dem nächsten ein und dann fängt es auch noch an zu regnen. „An diesem Tag dachte ich nur: Scheiße, ich kann nicht mehr.“ Doch er zieht durch, setzt einen Schritt vor den anderen. Nach 38 Kilometern kommt er völlig erschöpft im Nachtlager an und spürt die ersten Blasen an den Füßen.

Die Routine am Abend besteht immer daraus, sich in einer Warteschlange anzustellen. „Da musste man sich die Blasen aufstechen lassen und den Verband wechseln“, erklärt Sirin und lacht: „Morgens sind wir immer topmotiviert losgelaufen und abends wie tote Männer zum Arzt gehumpelt.“

Dann folgen noch anstrengendere Etappen. Einmal gibt es eine Bergbesteigung über 35 Kilometer. Ein anderes Mal laufen die Teilnehmer mit einer Stirnlampe durch die stille Wüstennacht und müssen auf Skorpione und Schlangen aufpassen. „An dem Tag sind wir morgens um halb acht los und kamen am nächsten Tag um 14 Uhr an den Zelten an. Das war krank.“

Viele gehen bei dem Marathon an ihre Grenzen und müssen abbrechen

Während des Marathons kreisen mehrere Helikopter über den Teilnehmern. Auch Geländewagen fahren neben ihnen her. „Die haben immer geguckt, ob man noch bei Sinnen ist.“ Denn viele gehen komplett an ihre Grenze. „Zwei Leute haben zum Beispiel auf einmal Weihnachtslieder gesungen und sind in die falsche Richtung gelaufen. Die waren so fertig, dass sie disqualifiziert werden mussten.“ Auch der Mülheimer muss am letzten Tag fast abbrechen. Nicht nur seine Füße sind mittlerweile extrem dick. Auch sein Gesicht ist angeschwollen. Doch der Arzt gibt Entwarnung – und Sirin gibt noch ein letztes Mal Gas.

Dass Yasin Sirin irgendwann mal einen der schwersten Marathons der Welt bestreitet, hätte er selbst nicht für möglich gehalten. Umso stolzer ist er jetzt auf seine Medaille. Seine Startnummer war die 977.
Dass Yasin Sirin irgendwann mal einen der schwersten Marathons der Welt bestreitet, hätte er selbst nicht für möglich gehalten. Umso stolzer ist er jetzt auf seine Medaille. Seine Startnummer war die 977. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Nach sieben Tagen und insgesamt 250 Kilometern kommt er am Ziel an. „Ich war total benebelt und konnte es selbst kaum glauben.“ Das Erste, was er nach dem Marathon macht: Eine eiskalte Cola trinken und duschen. „Wir hatten sieben Tage lang keine Toilette und keine Dusche“, erklärt der 32-Jährige.

Auf dem Rückflug sind seine Füße so geschwollen, dass er noch eine Woche lang seine Laufschuhe tragen muss. Aber er hat auch ein bisschen Wüstensand im Gepäck. „Als Erinnerung daran, dass man alles schaffen kann, wenn man sich ein Ziel setzt.“