Gelsenkirchen-Buer. Arme sind Verlierer der Energiewende, grundlegende Änderungen sind erforderlich. Diese Forderungen stellen Experten der WH Gelsenkirchen auf.
- Ihre Positionen haben sieben Wissenschaftler der Westfälischen Hochschule formuliert.
- Ihr Diskussionspapier „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit“ birgt durchaus Sprengkraft.
- Die Experten nehmen zu Erneuerbaren Energien, grünem Wasserstoff und Herausforderungen der Energieversorgung Stellung.
- Und sie machen deutlich, wer bislang zu den Verlierern zählt: Zahllose Arme, auch in Gelsenkirchen.
Sieben Professoren des Westfälischen Energieinstituts (WEI) an der WH, der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen haben ein Positionspapier zur Energie- und Klimawende vorgelegt. Ihre Botschaft über die wissenschaftliche Bestandsaufnahme hinaus ist gleich in mehreren Punkten auch sozioökonomisch bemerkenswert. Und sie soll nachhaltig wirken: „Wir wollen das Papier jährlich mit einem Update versehen, auch um die Politik vor uns herzutreiben“, kündigt Professor Heinz-J. Bontrup, einer der Autoren des Papiers, an. Und betont: „Die Politik bekommt dann von uns Noten.“
Gelsenkirchener Wissenschaftler wollen künftig Noten vergeben
Wie die derzeit ausfielen, lässt der Wirtschaftswissenschaftler offen. Gut wohl kaum, auch in Bezug auf ambitionierte Zielvorgaben. Die Energiewende und die Versorgung allein aus Erneuerbaren Energien bis 2030 zu schaffen, sagt Bontrup, „ist Wunschdenken. Und das ist verantwortungslos.“ Dazu seien die „hochschwierigen“ technischen Herausforderungen „zu komplex“.
Sechs sozialpolitische Positionen
Das Positionspapier der WH-Wissenschaftler enthält etliche sozio-ökonomische Positionen. Die wichtigsten Thesen und Forderungen:1. Die Klimakrise verschärft sich. Sie kann nur durch eine verstärkte internationale Kooperation gelöst werden. 2. Energie wird sich dauerhaft drastisch verteuern, „die unteren Einkommensschichten werden die Preiserhöhungen nur schwerlich stemmen können.“ 3. Auch wenn Deutschland nur für rund zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sei, müsse es als eines der reichsten Länder der Erde überproportionale Anstrengungen zur CO2-Neutralität unternehmen. 4. Die Schuldenbremse müsse zugunsten einer an den Zukunftsinvestitionen orientierten Schuldenbegrenzung aufgegeben werden. Überdies werde eine Verschuldung des Staates unumgänglich sein, was aber nur generationengerecht sei. 5. Hohe Einkommen und Vermögen werden von einer wesentlich höheren Besteuerung betroffen sein. „Ohne die ergänzende Wiedereinführung der 1997 ausgesetzten Vermögensteuer und einer höheren Erbschaftsteuer wird die Energie- und Klimawende nicht gelingen.“6. Ohne Lenkung, Intervention und Regulierung durch den Staat wird die Energiewende nicht umsetzbar
Eine Umverteilung von oben, von den „fürchterlich Reichen“, zu den Einkommensschwachen, ist für die Wissenschaftler unabdingbar. „Wer soll das sonst bezahlen?“, fragt Bontrup. „Jedes fünfte Kind lebt bereits in Armut, in Gelsenkirchen sind es noch mehr. Das erhöhte Preisniveau trifft auf eine zerrissene Gesellschaft.“ Die politisch aufgesetzten Entlastungspakete der Regierung erweisen sich aus Sicht der Wissenschaftler „hier als halbherzig, nicht zielgenau und letztlich auch als ungeeignet, die Problematik dauerhaft zu lösen.“ Ihr Fazit: „Eine Symptompolitik und Sekundärverteilung sind hier nicht zielgerichtet“, entscheidend sei die „Beseitigung der Ursachen für niedrige Primäreinkommen“.
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Auch energiepolitisch sehen die Wissenschaftler des WEI hohe Hürden für den notwendigen weiteren Ausbau mit Erneuerbaren Energien (EE) und gleichzeitig Herausforderungen bei der Versorgungssicherheit. Dies gelte sowohl für die Flächen- und Energiespeicherbedarfe, genauso wie für die Wasserstoffszenarien. „Der Ausbau mit EE muss auf jeden Fall von Brückentechnologien begleitet werden“, betonen die Wissenschaftler. Dazu zählten Erdgaskraftwerke im H2-ready-Format (also wasserstoffgeeignet) und/oder Biogasanlagen.
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Selbst wenn der Import von Kohle, Öl und Gas künftig verringert werde, bleibt Deutschland weiter ein Energieimportland. Davon geht die Studie aus, ebenso, dass durch den „notwendigen riesigen Speicherbedarf an elektrischer erneuerbarer Energie eine neue Importabhängigkeit von im Ausland regenerativ erzeugten Wasserstoff und Basiswerkstoffen für Batteriespeicher wie Kobalt und Lithium“ bestehe.
Aus eigener Kraft die Herausforderungen der Klimakrise angehen
Im internationalen Austausch gelte es zu verhindern, dass vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer aufgrund ihrer schwierigen ökonomischen Herausforderungen ihre Energieversorgung über die kostengünstigen fossilen Energieträger decken, sondern mittel- bis langfristig aus eigener Kraft die Herausforderungen der Klimakrise angehen können. Daher seien Exportmöglichkeiten für diese Länder zu schaffen. Mit Ländern im „Sonnengürtel der Erde“ und mit enormem Windenergiepotenzial böte sich dabei eine „internationale Arbeitsteilung an, bei der dort grüner Wasserstoff erzeugt und nach Europa exportiert wird. Dazu müssen aber die reichen Länder entsprechende technische und finanzielle Unterstützungen bereitstellen.“
„Internationale Arbeitsteilung mit Ländern im Sonnengürtel der Erde“
Damit die Rechnung aufgehe, so eine Schlussfolgerung der Instituts-Experten, „müssen die hohen deutschen Exportüberschüsse reduziert werden, was nicht leicht sein wird, weil davon zwei Wirkungen ausgehen: Erstens ein beträchtlicher Transformationsprozess in der deutschen Industrie und zweitens Anpassungsprozesse in den Importländern.“ Ihre Logik: Für die Energiewendeinvestitionen notwendige Finanzmittel würden dann binnenwirtschaftlich zum Einsatz kommen. Das Ausland verlöre im Gegenzug zwar kreditbasierte Importmöglichkeiten, doch alternativ könnte hier „mit deutschem Finanzkapital in den Schwellen- und Entwicklungsländern eine Infrastruktur aufgebaut werden, um damit EE-Strom und Wasserstoff zu produzieren. So ließe sich für diese Staaten „in einer beiderseitigen Win-Win-Lösung eine neue Wohlstandsquelle aufbauen“.
>>> WEI bündelt wissenschaftliche Kompetenz
Unter dem Titel „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit“ wurde das Positionspapier am WEI von den Wissenschaftlern Heinz-J. Bontrup, Michael Brodmann, Christian Fieberg, Markus Löffler, Ralf-M. Marquardt, Andreas Schneider und Andreas Wichtmann verfasst.
Das Westfälische Energieinstitut WEI ist die zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Westfälischen Hochschule für energietechnische Fragen und bündelt – seit 2011 unter diesem Namen – die energietechnischen Kompetenzen der Westfälischen Hochschule über die Standorte und Fachbereiche hinweg.
Mit inzwischen 27 Professorinnen und Professoren sowie wissenschaftlichen Mitarbeitern und Doktoranden hat sich das WEI auch als Forschungs- und Entwicklungspartner der Industrie positioniert.
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