Gelsenkirchen. Hat sich häusliche Gewalt in den vergangenen Monaten in Gelsenkirchen verstärkt? Vermutlich, sagen Frauenhaus und Frauenberatungsstelle.

Anna Delewski und Nicole Grobe erhalten seit Corona zwar weniger Anfragen und Notrufe. Aber das heißt nicht, dass Frauen und Kinder in den letzten Monaten nicht extrem unter der Situation gelitten haben. Im Gegenteil, sagen die beiden Mitarbeiterinnen des Frauenhauses im Gespräch mit WAZ-Mitarbeiterin Tina Bucek.

Frau Delewski, Frau Grobe, wie geht es den Frauen in Gelsenkirchen?


Grobe: Genau können wir das nicht sagen. Denn während des Lockdowns im März und April haben uns sogar weniger Anfragen und Notrufe von Frauen hier im Frauenhaus erreicht. Normalerweise klingelt hier das Telefon mehrmals am Tag. In den Lockdown-Monaten hatten wir vielleicht fünf Anfragen pro Monat.


Delewski: Das heißt aber nicht, dass sich die Situation der Frauen entspannt hat, im Gegenteil. Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen mit ihrem gewalttätigem Partner 24 Stunden am Tag im Haus, sie können die Kinder nicht in die Kita oder zur Schule bringen, nicht einkaufen gehen, zum Beispiel keine Vorsorge-Untersuchungen beim Frauen- oder Kinderarzt/ärztin machen, treffen keine Nachbarn oder Nachbarinnen im Hausflur. Womöglich nimmt er Ihnen auch noch das Handy weg und kontrolliert jeden Schritt in der Wohnung. Da haben die Frauen schlicht gar keine Möglichkeit zu fliehen oder auch nur zu telefonieren.

Anne Delewski (l.) und Nicole Grobe haben wie alle Mitarbeiterinnen im Frauenhaus in Gelsenkirchen sehr anstrengende Wochen hinter sich.
Anne Delewski (l.) und Nicole Grobe haben wie alle Mitarbeiterinnen im Frauenhaus in Gelsenkirchen sehr anstrengende Wochen hinter sich. © FUNKE Foto Services | Michael Korte


Grobe: Wir haben auch im Austausch mit anderen Kommunen erfahren, dass es dort ähnliche Zahlen gab. Als die Lockdown-Maßnahmen dann gelockert wurden, sind die Anfragen wieder gestiegen.

Wie haben die Frauen hier im Haus denn die Lockdown-Monate erlebt?


Delewski: Es gab schon eine sehr große Corona-Angst. Wir haben hier im Haus 20 Plätze, die auch überwiegend mit Frauen und ihren Kindern belegt sind. Im Moment wohnen hier fünf Familien. Wir haben versucht, bestimmte Abläufe im Haus zu ändern, Abstand zu halten, Gruppenaktivitäten zu reduzieren, natürlich auch die Hygiene-Vorschriften einzuhalten. Aber trotzdem ist es so, dass die Frauen ja schon verunsichert und verängstigt zu uns kommen. Sie sind meist nicht in einem stabilen Zustand. Da war es nicht leicht, auch noch mit der zusätzlichen Angst vor Corona zurechtzukommen.


Grobe: Wir sind sechs Kolleginnen hier und haben uns in den Anfangsmonaten der Corona-Zeit im Haus abgewechselt. Wir haben festgestellt, dass unsere Bewohnerinnen sehr vorsichtig waren, noch vorsichtiger als sonst. Wir haben dazu auch viele Gespräche mit den Bewohnerinnen geführt und versucht, die Schule von hier aus mit den Kindern zu organisieren. Das waren für uns alle sehr anstrengende Wochen.


Delewski:
Aber wir haben ja nicht nur Frauen und Kinder, die hier im Haus wohnen. Teil unserer Arbeit ist auch, diejenigen zu unterstützen, die wieder ausziehen, in eine eigene Wohnung, den Schritt wagen, sich ein neues Leben aufzubauen. Diese besuchen uns normalerweise regelmäßig, was ja im Lockdown auch nicht möglich war. Da mussten wir schon kreativ werden. Wir haben viel telefoniert und uns per E-Mail ausgetauscht - naja, man stellt sich eben auf die Umstände ein.

Wie alt sind denn die Frauen durchschnittlich, die zu Ihnen kommen?


Grobe: Meistens so zwischen 20 und 40 Jahre und die meisten kommen mit Kindern, oft auch vielen Kindern. Häusliche Gewalt findet in allen Schichten, Kulturen und Altersgruppen statt. Statistiken zeigen, dass jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von häuslicher Gewalt wird. Eine Seniorin meldet sich vielleicht nicht im Frauenhaus, wenn sie von ihrem Mann physisch oder psychisch misshandelt wird - aber das bedeutet nicht, dass das nicht passiert. Frauen, die andere finanzielle Mittel, Möglichkeiten und Ressourcen haben, suchen weniger oft den Weg ins Frauenhaus.


Delewski: Wer bei uns ankommt, ist oft gleich auf mehreren Ebenen in Not:Frauen und Kinder haben Gewalt in verschiedener Form erlebt und brauchen in unterschiedlichem Maß Zeit, um einen Weg in ein verändertes autonomes Leben zu finden.


Grobe: Corona und die Begleitumstände wie der Lockdown trifft Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, besonders hart. Wie die Pandemie auch andere Bevölkerungsgruppen besonders trifft, die sowieso schon benachteiligt sind. Deswegen ist es ganz wichtig, deren Nöte in dieser Zeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Was raten Sie denn Frauen, die so stark von ihrem Aggressor kontrolliert werden, dass sie keinen Ausweg sehen?


Grobe: Die Frauen sollen versuchen, jede Gelegenheit zu nutzen, um sich Hilfe zu suchen. Nachbarn oder Nachbarinnen im Hausflur ansprechen, ,,ich werde bedroht, bitte rufen Sie die Polizei”, in Geschäften fragen, ob sie mal telefonieren dürfen und selbst die Polizei rufen, den Arzt oder Apotheker ansprechen, die Lehrerin in der Schule oder die Erzieherin in der Kita.

Jeder, der von außen aufmerksam wird, kann ein Trittbrett für einen Neuanfang sein.


Delewski: Das gilt natürlich auch für uns alle. Wir als Nachbarn, Mitbewohner im Mietshaus, als aufmerksame Mitbürger können uns für das Thema häusliche Gewalt sensibilisieren, ansprechbar sein und gegebenenfalls Unterstützung anbieten. Dies ist nicht immer einfach, da häusliche Gewalt verschiedene Aspekte hat. Nicht jede Frau oder jedes Kind hat offensichtliche Verletzungen. Oft spielt auch die psychische und seelische Gewalt eine große Rolle.

Wie blicken Sie auf die kommenden Monate?


Grobe:
Ein bisschen mit Sorge. Denn wenn die Wintermonate kommen und sich das Virus wieder ausbreiten sollte, möglicherweise wieder eine Lockdown-Phase kommt, wird das auch für Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, erneut schwieriger, sich zu trennen.