Gelsenkirchen. Weltweit fordern Aktivisten eine Aufarbeitung europäischer Kolonialverbrechen. Sollten auch drei Straßen in Gelsenkirchen umbenannt werden?
Die weltweiten Anti-Rassismus-Demonstrationen haben eine Debatte über eine angemessene Aufarbeitung von Kolonialverbrechen und Sklavenhandel ausgelöst. In Deutschland sind Initiativen wie „Tear this Down“ entstanden, die dafür kämpfen, Statuen vom Sockel zu holen oder Straßen umzubenennen, die Persönlichkeiten oder Ereignisse aus der Kolonialzeit ehren – was auch auf mindestens drei Straßen in Gelsenkirchen zutrifft: Die Tangastraße, die Windhukstraße und die Waterbergstraße.
Drei Straßen in Gelsenkirchen mit Bezug zur Kolonialzeit
„Die Namen dieser Straßen sind nach unserem Kenntnisstand während der Nazi-Zeit auf Vorschlag des Reichskolonialbundes vergeben worden“, erläutert Daniel Schmidt, Leiter des Gelsenkirchener Instituts für Stadtgeschichte. „Deutschland hatte seine Kolonien im Ersten Weltkrieg verloren und wollte mit den Namen die Zurückgewinnung der Kolonien bekräftigen.“
Auftakt zum Völkermord an die Herero
So erinnert die Tangastraße in Bismarck nicht nur an die gleichnamige Hafenstadt in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, sondern vor allem an die Schlacht bei Tanga im Jahr 1914. Dabei siegten die deutschen Truppen über die britisch-indischen Kolonialstreitkräfte. Auf deutscher Seite verloren dabei vor allem Askaris ihr Leben, also einheimische Soldaten der Schutztruppe.
Die Windhukstraße in Bulmke-Hüllen wurde von den Nationalsozialisten nach der damaligen Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Südwestafrika und heutigen namibischen Hauptstadt benannt. Direkt neben der Windhukstraße verläuft die Waterbergstraße, deren Benennung bereits vor einigen Jahren ein strittiges Thema im Stadtteil war. Sie steht für die Schlacht am Waterberg, die den Auftakt zum Völkermord an den Herero gegeben hat. Bis zu 80.000 Herero verloren damals ihr Leben.
Heute erinnert eine ausführliche Infotafel an die damaligen Gräueltaten, die 2016 im Rahmen des „Erinnerungsorte“-Projekts eingeweiht wurde. Weniger detaillierte Erläuterungstexte finden sich auch direkt unter den Straßenschildern der drei Straßen. „Die Bevölkerung erhob sich mehrfach gegen die deutsche Kolonialherrschaft“, steht etwa am Straßenschild der Windhukstraße. „Die Aufstände wurden blutig unterdrückt.“
Grüner OB-Kandidat fordert mehr Aufklärung
Die Straßen umzubenennen hält Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte seit jeher für den falschen Weg. „Diese Straßennamen sind eine Chance zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte“, sagt er. „Wenn die Straßennamen einfach verschwinden, verschwinden auch die historischen Hintergründe und der Anlass, die eigene Geschichte zu reflektieren und zu hinterfragen.“
Zuspruch erhält Schmidt vom Oberbürgermeister-Kandidaten der Grünen, David Fischer. „Solche Straßen können ein Mahnmal gegen den Kolonialismus und gegen den Rassismus sein.“ Sich für eine Umbenennung einzusetzen, schließt der Ratsherr und Schulleiter nicht aus, eine breitere Aufklärung hält er jedoch für gewinnbringender. „Gerade für Gelsenkirchen, wo die AfD bei den letzten Wahlen von besonders vielen Menschen gewählt wurde, halte ich es für unabdingbar, dass man weitere Aufklärungskampagnen ins Leben ruft.“
Initiative Schwarze Menschen will „Perspektivwechsel
Die Initiative Schwarze Menschen, die unter anderem für das Projekt „Tear this Down“ verantwortlich ist, kann das Festhalten an den kritischen Straßennamen nicht nachvollziehen. „Niemand will, dass die Geschichte aus den Städten verschwindet, aber wir wollen einen Perspektivwechsel“, sagte Simone Dede Ayivi, Sprecherin der Initiative. So könne eine Straße etwa nach einer Person oder einem Ereignis aus demselben historischen Kontext umbenannt werden. „Geehrt werden sollten die Opfern oder die Menschen, die Widerstand gegen die Kolonialmächte geleistet haben.“
Gut gelungen sei das etwa 2010 in Berlin, wo das Gröbenufer in May-Ayim Ufer umbenannt wurde. Otto Friedrich von der Gröben (1657-1728) errichtete die Festung „Großfriedrichsburg“ im heutigen Ghana, die als Zentrum des europäischen Sklavenhandels galt; die Dichterin May Ayim (1960-1996) kämpfte gegen die Diskriminierung von Schwarzen in Deutschland – als Tochter einer Ghanaers.
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