Bochum/Dortmund/Duisburg. Jeder zweite junge Mensch ist im Netz, weil er sich allein fühlt. So auch Anna, Nina und Nora. Drei aufrüttelnde Geschichten aus dem Ruhrgebiet.

„Ich wollte nicht, dass wir uns so schnell nahe kommen. Ich wollte, dass Martin mir mehr Zeit gibt“, sagt die 23-jährige Anna* heute. Auch jetzt fühlt sich die Bochumerin unwohl bei dem Gedanken an den jungen Mann, in den sie mal verliebt war. Sie hat allen Kontakt abgebrochen, ihn im sozialen Netzwerk blockiert.

Martin lernt Anna, damals 19, über eine Facebook-Gruppe kennen. Der 24-jährige Kölner schickt ihr Nachrichten – morgens, mittags, abends. „Wie war dein Tag? Ich denke an dich.“ Zu schön, um wahr zu sein.

Nach nur wenigen Tagen schreibt er ihr "Ich liebe dich"

Eine Studie von Klicksafe, der EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz, zeigt: Fast jeder zweite 14- bis 29-Jährige nutzt das Internet, um sich nicht alleine zu fühlen. Und fast jeder dritte junge Nutzer hat es bereut, persönliche Informationen in sozialen Netzwerken geteilt zu haben. Monika Bormann, Psychotherapeutin und Leiterin der psychosozialen Beratungsstelle „Neue Wege“ in Bochum, sagt: „Sehe ich das Gesicht, die Statur meines Gegenübers, nehme seinen Geruch wahr, kann ich einschätzen, ob er mir sympathisch ist. Das alles fehlt im Netz. Das macht das Internet riskanter als das Leben draußen.“

Anna freut sich immer mehr, von Martin Nachrichten zu bekommen. Nach wenigen Tagen sagt er ihr: „Ich liebe dich“ – und sie antwortet ihm mit den gleichen Worten. Als er ihr schreibt, er könne für ein Wochenende nach Bochum kommen, ist Anna Feuer und Flamme. Am Hauptbahnhof begegnet sich das virtuelle Liebespaar zum ersten Mal, umarmt sich, hält Händchen. „Ich habe mich dabei geborgen gefühlt“, sagt Anna. Sie begleitet ihn zu seiner Pension.

Die Zärtlichkeit fühlt sich falsch an

Nach den ersten Küssen fängt Martin an, Anna auszuziehen. Er ist zärtlich, aber für Anna fühlt es sich „komisch“ an. Denn: Sie kennt Martin nur aus dem Internet und erst seit weniger als einer Stunde in der Realität. Sie denkt sich: „Gib mir noch etwas Zeit.“ Aber im entscheidenden Moment hört sie nicht auf ihre innere Stimme. Sie will Martin nicht verletzen. Er ist doch schließlich nur für das Treffen mit Anna angereist.

„Ich bin erstarrt“, erinnert sie sich. Es ist Annas erstes Mal. Danach hat sie tagelang Unterleibsschmerzen, fühlt sich „über Wochen geknickt“. Martins Nachrichten werden mit der Zeit weniger. Ihr Halt: „Meine Eltern haben mir Kraft gegeben. Sie unterstützen mich in allem.“

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Nur die Hälfte der deutschen Eltern, so ein weiteres Ergebnis der ­Klicksafe-Umfrage, machen sich Sorgen, dass ihr Kind im Internet von Fremden kontaktiert wird. Dabei vertraut jeder Vierte bis zu 21-Jährige Online-Bekanntschaften, wenn diese viele Informationen von sich teilen. Dagmar Hoffman, Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen, hält es für wichtig, Jugendliche fürs Netz mündig zu machen. „Dann können sie das Internet sinnstiftend für sich nutzen, Selbstschutzmechanismen ausbilden.“

Der Youtuber und die 13-Jährige

Jahre dauert es, bis die heute 19-jährige Nina das, was vorgefallen ist, als sexuellen Missbrauch werten kann. Denn sie wollte seine Nähe und er war ihre erste Liebe. Nina ist 13 Jahre alt, als sie „Mr. Knight“ auf Youtube entdeckt. Die langen Haare, die Metal-Musik und seine Witze reißen sie mit. „Mr. Knight“ sagt – wie viele Youtuber: „Ich mag all meine Follower. Schreibt mir alle.“ Die Dortmunderin himmelt den Youtuber mit den 120 000 Followern an.

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In ihrem Elternhaus ist kein Platz für Nina. Da ist niemand, der ihr das Gefühl gibt, geborgen und gewollt zu sein. Die Eltern streiten ständig. Der Vater schlägt die Mutter, die wiederum ihr Leid öffentlich sichtbar auf Webseiten klagt. Heute sagt Nina: „Meine Welt ging unter. Das waren verschiedene Vorstufen der Hölle.“

An einem Winterabend weiß Nina nicht, wohin mit ihren Gefühlen und schreibt „Mr. Knight“, was ihr auf dem Herzen liegt. Der Youtuber antwortet direkt: „Du musst von zu Hause weg, damit die merken, wie schlecht es dir geht. Komm doch zu mir.“ Nina denkt sich damals: „Da ist endlich jemand, der mich bei sich haben will.“ Nina und „Mr. Knight“ haben jetzt täglich Kontakt über Facebook und Skype. Nina ist „megaverknallt“ und der Youtuber sagt, er habe die gleichen Gefühle für sie. Sie erzählt viel von sich, von ihrem Leben zwischen Schule und Musikunterricht. „Mr. Knight“ erzählt nur wenig von sich. Er sagt, dass er mit ihr schlafen wolle. Der 24-jährige Berliner weiß, dass Nina erst 13 Jahre alt ist. Nina kauft ein Bahnticket, um zu ihm zu fahren. Sie will für immer weg.

Jugendliche suchen sich selten Hilfe

Der Youtuber holt das Mädchen vom Hauptbahnhof ab. Sie küssen sich. Ninas erster Kuss. In seiner Wohnung schlafen sie dann miteinander. Kurz darauf kommen „Mr. Knights“ Gäste, darunter auch viele andere Youtuber. „Das waren alles Leute, die sich selbst darstellen wollten, und ich habe gemerkt, dass ich sieben Jahre jünger als alle anderen bin.“ Nina fühlt sich unwohl.

Die Party eskaliert um 23 Uhr: Die Kripo rückt an, nimmt Nina mit. Ihre Mutter hatte mittags gemerkt, dass ihre Tochter weg war, und die Polizei alarmiert. Mit dem Streifenwagen geht’s auf die Wache und dann im Auto der Eltern zurück ins Ruhrgebiet. Die Schmetterlinge im Bauch für den Youtuber aus Berlin spürt Nina noch lange. Noch einige Monate nach dem Vorfall sagt sie bei der Polizei aus, „Mr. Knight“ habe nicht gewusst, dass sie 13 Jahre alt war. Um ihn zu schützen. Das Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes wird deshalb eingestellt. Doch heute schwankt die 19-Jährige „zwischen Wut und Versöhnlichkeit“. Sie überlegt immer wieder, ob sie den Fall bei der Staatsanwaltschaft neu aufrollen lassen soll.

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Die Polizei geht davon aus, dass sexueller Missbrauch und Nachstellung besonders selten angezeigt werden, wenn das Internet im Spiel ist. „Das Dunkelfeld ist extrem hoch. Ein Grund ist Scham“, sagt Mario Lorenz, Sprecher des Landeskriminalamtes. Nina Tellmann von der Mönchengladbacher Beratungsstelle „Zornröschen“ weiß, dass Jugendliche, die schlechte Erfahrungen über das Internet gemacht haben, selten Hilfe suchen. „Mädchen ist unglaublich peinlich, was passiert ist, weil sie erst dann merken, dass sie nicht genug nachgedacht haben.“ Nicht zu vergessen sei im Übrigen, dass Jungen auch betroffen sind. Und es müssen nicht alle Erlebnisse heikel sein.

Nora, jetzt 23, Mutter einer einjährigen Tochter und in fester Partnerschaft, meldet sich mit zwölf Jahren bei den sozialen Netzwerken Knuddels und SchülerVZ an. Noras Mutter liest sich die AGB durch. „Sie hatte ein Auge drauf, dass ich nur Kontakt mit Leuten habe, die ich kenne“, sagt die Duisburgerin heute. Mit 15 Jahren fängt Nora an, Fremde übers Internet kennenzulernen. „Vertraut habe ich diesen Menschen, aber Gefühle habe ich beim Chatten nicht entwickelt.“

Die Mutter weiß von jedem Kontakt

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Die Mutter sagt: „Gib keine Adresse, keine Telefonnummer, gib nichts heraus!“ Ab ihrem 16. Lebensjahr trifft sich Nora auch mit einigen Männern, die sie im Dating-Portal L­avoo kennenlernt. Zur schnellen Annäherung kommt es nie. Die schönsten Treffen sind die, bei denen sie mit der Verabredung spazieren geht, sich an die Ruhr setzt und unterhält.

„Ich habe immer darauf geachtet, mich an öffentlichen Plätzen zu treffen. Nach fünf oder sechs Mal habe ich die Person dann mit nach Hause genommen und meinen Eltern vorgestellt.“ Noras Mutter weiß vorab von allen Verabredungen – und lässt ihrer Tochter Freiheiten, sagt aber immer: „Wenn du mir nicht Bescheid sagst, dann sag’ einer guten Freundin, wo du mit wem bist.“

Nur ein einziges Treffen ist Nora unangenehm: Gleich in den ersten paar Minuten fragt ihr Date, ob sie nicht sofort mit ihm nach Hause fahren wolle. Nora fährt nach Hause – zu sich.

*Namen und Orte wurden von der Redaktion geändert