Essen. Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger erklärt, warum Kinder im Netz oft Opfer von Sexualtaten werden und wie wir sie besser davor schützen können.
Es gibt Menschen, die Kinder und Jugendliche nur aus einem Grund anschreiben: Sie möchten sie sexuell belästigen. Der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger aus Brandenburg erklärt, wie Täter beim sogenannten Cyber-Grooming vorgehen und was sich ändern muss, damit das Netz für Kinder und Jugendliche ein sicherer Ort wird.
Wie viele Kinder sind denn überhaupt vom Cyber-Grooming betroffen? Gibt es da Zahlen?
Thomas-Gabriel Rüdiger: Es gibt unterschiedlichste Studien die erarbeiten, dass ungefähr 40 Prozent aller Kinder von entsprechenden Kontaktanbahnungen oder sexuellen Belästigungen berichten. Ich persönlich gehe aber davon aus, dass jedes Kind im Netz schon mit einem Sexualtäter konfrontiert worden ist. Vielen ist dies auch erst nicht bewusst. Sie denken, dass das ein guter Freund ist, der sich mit ihnen unterhält.
Wie gehen Tätern beim Cyber-Grooming vor?
Rüdiger: Ich unterscheide zwei große Tätertypen. Der eine tastet sich heran, versucht Vertrauen aufzubauen und eine Beziehung zum Opfer zu führen. Ihm geht es tatsächlich auch um ein Treffen mit dem Kind. Das ist aber aus meiner Sicht die seltenere Form. Der zweite will das Kind in eine sexuelle Interaktion einbeziehen, um an Erpressungsmaterial zu kommen. Der Einstieg kann hier völlig unverfänglich sein, über das Angebot ein Kind für Nacktbilder mit Geld zu bezahlen bis zu expliziten sexuellen Aufforderungen. Teilweise sind die Täter nett, solange das Kind den Aufforderungen nachkommt, wenn es das dann aber nicht mehr mitmacht, wird das Kind erpresst. So beginnt dann ein Teufelskreis.
"Täter sind immer wieder erschreckend kreativ"
Gibt es denn noch andere Formen von Cyber-Grooming?
Rüdiger: Es gibt die unterschiedlichsten Formen – die Täter sind immer wieder erschreckend kreativ. Es gibt beispielhaft die „Bravo- und Fußball-Scout-Masche“. Da werden dann Jungen, die auf ihrem Profil angeben, dass sie zum Beispiel Fußball spielen, von angeblichen Talent-Scouts von großen Fußballvereinen angeschrieben. Oder es werden Mädchen unter dem Vorwand angeschrieben, dass für die Bravo oder Topmodels Mädchen gesucht werden. Dafür sollen sie dann vorher Bilder in Unterwäsche von sich schicken. Dadurch, dass sich Kinder im Netz präsentieren und Informationen von sich preisgeben, sind solche individuellen Angriffe möglich. Das war früher nicht so.
In einer Ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen schreiben Sie, dass auch vor allem Online-Games mit Chatfunktion für Täter attraktiv sind. Spielt Gaming bei der Anbahnung sexueller Kontakte bei Jugendlichen immer noch eine Rolle?
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Rüdiger: Absolut. Täter gehen dahin, wo Kinder sind und dort wo Kommunikationsmöglichkeiten gegeben sind und das ist bei fast allen Onlinespielen der Fall. Der Unterschied zu klassischen sozialen Medien ist einerseits der, dass dort keine Bilder und Videos im Chat gepostet werden. Aber andererseits findet in der spielerischen Interaktion immer ein vertrauensbildender Prozess mit unbekannten Personen statt. Wenn man zusammen miteinander oder gegeneinander gespielt hat, liefert dies häufig schon den Einstieg für ein Vertrauensverhältnis. Sobald das Vertrauen etabliert ist, kann die weitere Kommunikation dann auch wieder bei WhatsApp oder Skype stattfinden.
Kann man also insgesamt sagen, dass Opfer im Internet leichtgläubiger sind?
Rüdiger: Das Problem ist, dass ein Kind in der Realität visuell sofort erkennen kann, dass der Gegenüber nicht gleichaltrig ist und dann greifen meistens die Schutzmechanismen: Es zieht sich zurück. Das ist im Netz anders. Hier wachsen Kinder tagtäglich in einem Raum auf, den wir in der Realität sonst nie so zulassen würden. Stellen Sie sich mal einen Spielplatz vor, auf dem unbekannte Erwachsene an Kinder herantreten und diese auffordern mit diesen mitzukommen und zu spielen. Da würden wir alle sofort sagen: „Das geht nicht“, aber im Netz, passiert genau dies weltweit. Das Netz ist für Sexualtäter letztlich ein Art Geschenk Gottes.
Ein Drittel der Täter sind im gleichen Alter wie ihre Opfer
Warum lassen sich Kinder denn überhaupt auf so eine Interaktion ein und verschicken Bilder an Unbekannte?
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Rüdiger: Kinder wollen sich ausprobieren. Es ist auch eine Form von Anerkennung. Kinder sind es außerdem gewohnt, Bilder von sich preiszugeben. Sie wachsen damit auf, sich zu präsentieren. Sie sehen zum einen, dass YouTube-Stars damit extrem erfolgreich sind. Und zum anderen, dass auch die eigenen Eltern Fotos auf Facebook posten. Da kriegen sie vorgelebt, dass es die Eltern ja auch machen. Dann ist der Sprung sich auch freizügig zu fotografieren nicht mehr so weit. Kinder müssen im Umgang mit den eigenen Bildern besser vorbereitet werden. Gleichzeitig müssen aber auch Erwachsene reflektieren, dass ihre Mediennutzung das Vorbild für die eigenen Kinder ist.
Wie könnte man denn bessere Aufklärung bei Kindern und Jugendlichen leisten?
Rüdiger: Wir müssen vermitteln, was sie im Netz dürfen und wie sie sich schützen können. Als zweites muss man schauen, wie man verhindern kann, dass sie selbst zu Tätern werden, denn ein Drittel der angezeigten Tatverdächtigen sind Kinder und Jugendliche. Von den Tätern aus diesen Peer Groups droht eine wachsende Gefahr. Die Vorstellung vom „perversen Alten“ ist da immer noch zu stark in unseren Köpfen verankert.
Woran liegt das, dass immer mehr Täter im gleichen Alter wie ihre Opfer sind?
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Rüdiger: Für mich liegt der Hauptgrund in der generellen Digitalisierung der Jugend: Verbringen diese mehr Zeit online mit Gleichaltrigen gibt es auch mehr Übergriffe. Gleichzeitig gibt es keine Aufklärung, in dem Sinne, dass sie wissen, was sie dürfen oder nicht.
Also ist der Jugendmedienschutz heutzutage nicht ausreichend?
Rüdiger: Nein. Wir wollen, dass Kinder diesen digitalen Raum mitnutzen, aber wir schieben das allein auf die Eltern ab, dass sie das mit ihrer Medienkompetenz lösen sollen. Aber Eltern sind nicht immer in der Lage oder haben einfach kein Interesse, dieses Problem zu lösen. Es ändert aber auch nichts daran, dass die Täter da sind. Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte, wie wir hier vorgehen.
Eltern sollten selbst aktiv soziale Medien nutzen
Was würden Sie Eltern denn raten?
Rüdiger: Ich rate Eltern selber die sozialen Medien zu nutzen. Natürlich soll das nicht geschehen, um die Kindern dort dann auszuspionieren, sondern ein Gespür dafür zu entwickeln, wie diese Programme funktionieren und welche Risiken vorkommen können. Dann können Eltern erst mit ihren Kindern auf einer Augenhöhe sprechen. Im Ergebnis muss es dazu führen, dass Eltern auch im Digitalen wieder Ansprechpartner ihrer Kinder werden und nicht Kinder die Ansprechpartner der Eltern.
Und was könnten wir als Gesellschaft besser machen?
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Rüdiger: Aus meiner Sicht müssen wir im Netz einen generalpräventiven Rechtsraum ähnlich wie im Straßenverkehr schaffen. Das bedeutet, dass wir Eltern haben, die durch Vorbildfunktion die Regeln des Raumes vermitteln und Bildungseinrichtungen, die diese Regeln aufgreifen und vertiefen. Nur was würde es bringen, wenn man einem Kind sagt „Lauf nur bei grün über die Ampel“, wenn es nicht im Gegenzug eine Regel gibt, die verhindert, dass ein Autofahrer bei Rot fährt? Die Frage ist also: Warum sind wir als Gesellschaft nicht in der Lage einen Raum zu schaffen, der ähnlich strukturiert ist?
Also brauchen wir auch strengere Gesetze, um Opfer besser im Netz zu schützen?
Rüdiger: Nicht nur Gesetze, auch Eltern als Ansprechpartner für Kinder im Netz. Zum anderen fehlt die Sichtbarkeit der Polizei: Nur 0,6 Prozent der Polizei beschäftigt sich mit Cybercrime. Wir müssen letztlich auch die Sichtbarkeit von Sicherheitspersonal im Netz erhöhen, um auch abschreckend auf die Täter zu wirken. Aber um Kindern im Netz einen sicheren Raum bieten zu können, brauchen wir nicht nur Diskussion über Schule, Eltern oder Polizei, sondern wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Strukturplan. Es gibt keine singuläre Lösung. Medienkompetenz allein bringt nichts, wenn Täter weiter vorgehen können. Die Alternative ist, dass wir keine Kinder und Jugendlichen mehr im Netz haben. Aber das kann ja nicht der gesellschaftliche Anspruch sein.